Ausstellungen

„Sieh Dir die Menschen an!“

Kunstmuseum Stuttgart zeigt Typenporträts der Neuen Sachlichkeit aus der Weimarer Zeit

 

Im Jahr 1929 erscheint in Leipzig eine Essay-Sammlung mit dem Titel „Die Frau von morgen wie wir sie wünschen“. Sie ist bezeichnend für eine Tendenz in der Gesellschaft der Weimarer Republik nach dem 1. Weltkrieg, Menschen aufgrund einer Typologie zu klassifizieren, die in der Konstitutionslehre „Körperbau und Charakter“ des Tübinger Psychiaters Ernst Kretschmer in den 1920er Jahren ihren Ursprung hat. So die These der beiden Kuratoren Anne Vieth und Dierk Höhne, deren Ausstellung „Sieh Dir die Menschen an!“ im Kunstmuseum Stuttgart in Kooperation mit den Kunstsammlungen Chemnitz gezeigt wird. Der Titel zitiert einen gleichnamigen Ratgeber des mit den rassehygienischen Theorien der Nazis sympathisierenden Mediziners Gerhard Venzmer und impliziert zugleich eine Infragestellung und kritische Auseinandersetzung mit solcher gewollten oder ungewollten Kategorisierung, wie sie in vielen künstlerischen Darstelllungen der Neuen Sachlichkeit zutage tritt. Eine Fülle zeithistorischer Dokumente und Materialien – Bücher, Zeitungen, Zeitschriften, Werbung, Filme – geben den Rahmen für die über 100 Gemälde, Grafiken und Fotografien, die auf zwei Etagen des Stuttgarter Kunstmuseums präsentiert werden. Darüber hinaus stellt die großflächige Installation „Alpha Dog“ der kurdischen Künstlerin Cemile Sahin mit mechanischen, computerbasierten Gesichtserkennungsrobotern den Bezug zur Gegenwart her.

 

Kern der Ausstellung über „Das neusachliche Typenporträt in der Weimarer Zeit“ sind Porträts aus der eigenen Sammlung von Otto Dix, sie werden ergänzt durch Leihgaben von 40 Museen und Privatsammlungen im In- und Ausland. Dix‘ „Bildnis des Fabrikanten Dr. Julius Hesse“ vor einer Maschine spiegelt den Typus des Industriellen auf ähnliche Weise, wie sein „Bildnis der Tänzerin Anita Berber“ oder das vom Pariser Centre Pompidou ausgeliehene „Bildnis der Journalistin Sylvia von Harden“, welches mit Bubikopf, Lorgnon und „unweiblicher“ Körperhaltung am Caféhaustisch den Typ und die Umgebung der modernen, selbstständigen Frau darstellen, ohne das Klischee des Typus aus Frauenzeitschriften der damaligen Zeit zu reproduzieren. Ähnlich in solcher Spannung zwischen individueller Persönlichkeit und Mode der Zeit in unterschiedliche Milieus wirken zum Bespiel Hans Grundigs „Bildnis Gerda Laube“ (1925), Alexander Kanoldts „Junges Mädchen im rosa Kleid“ (1929) oder August Sanders Foto-Porträt „Sekretärin beim Westdeutschen Rundfunk in Köln“ (1931).  Bei Rudolf Schlichters „Géza von Cziffra“ sitzt der ungarische Lyriker und Journalist mit Fliege und Zigarettenspitze mit Büchern an der Seite im Lesesessel, sein „Hausvogteiplatz“ zeigt die modebewusste Berliner Gesellschaft am Rande der Karikatur, und Kate Diehn-Bitt inszeniert sich selbst als Malerin wie ein Mann.

 

Transgender-Themen sind in den „Goldenen Zwanzigerjahren“ in Berlin kein Tabu: Otto Dix proträtiert den offen homosexuell lebenden Juwelier Karl Krall mit rot geschminktem Gesicht und extrem tailliertem Jackett, Christian Schad zeichnet „Liebende Knaben“ beim Kuss, Georg Scholz malt „Die Schwestern“ eng umschlungen im Negligée auf dem Sofa. Zum Thema soziale Klassifizierung enthält die Ausstellung eine große Anzahl von Darstellungen: sie verkörpern zum Teil sozialkritisch-realistische Positionen wie Annelise Kretschmers „Industriearbeiter“, Hainz Harnischs „Arbeitsloser Hafenarbeiter“ oder „Schwangere“, andererseits kommt auch politische Agitation ins Spiel wie in Otto Griebels Gemälde-Tapete „Die Internationale“ als Kollektiv der Arbeiterklasse, oder bei Curt Querners „Demonstration“. Ob dabei auch Stereotype und Klischees reproduziert oder „rassistische, misogyne und homophobe Ressentiments“ geschürt werden, wie die Ausstellungsmacher das andeuten, liegt im Auge des Betrachters. Die sehenswerte Ausstellung im Kunstmuseum Stuttgart ist bis zum 14. April 2024 zu sehen.

„Modigliani – Moderne Blicke“

Staatsgalerie Stuttgart zeigt Akte und Porträts im Spiegel seiner Zeitgenossen

 

Als Amadeo Modigliani 1917 in Paris in der Galerie Berthe Weill eine Serie seiner Frauenakte zeigte, wurde die Ausstellung von der Polizei geschlossen. Warum diese Aktdarstellungen in der auch damals sehr freizügigen und künstlerisch progressiven französischen Metropole einen Menschenauflauf und den damit verbundenen Skandal verursachten, ist schwer zu erklären. Nicht nur bezog sich der italienische Maler in seinen Frauenakten auf Vorbilder aus der Renaissance, zum Beispiel auf Tizians „Venus von Urbino“, die er während seiner Studienjahre in Florenz in den Uffizien studiert hatte. Vielleicht waren es, mehr als die flächige, in rötlicher Pigmentierung plakativ wirkende Nacktheit der Modelle, deren kühl und selbstbewusst den Betrachter fixierenden Gesichter, die damals den bürgerlichen Widerspruch erregten.

 

Das zumindest vermuten die Kuratorinnen der in Kooperation mit dem Potsdamer Museum Barberini in der Stuttgarter Staatsgalerie eröffneten Ausstellung „Modigliani – Moderne Blicke“, die das Oeuvre des früh verstorbenen Künstler-Bohemiens im Kontext seiner figurativen Zeitgenossen zu Beginn des 20. Jahrhunderts verortet und für den italienischen Künstler im französischen Mekka der Kunst ein neues Frauenbild erkennt. Als Modigliani 1906 von Venedig nach Paris zieht und ein Atelier am Montmartre – in der Nähe des „Bateau lavoir“, wo wenig später Picasso und Georges Braque den Kubismus begründen – mietet, steht er zunächst stilistisch unter dem Einfluss von Cézanne und Toulouse-Lautrec. In den folgenden Jahren entdeckt er, angeregt durch Constantin Brancusi, auch die Bildhauerei und schafft Büsten in Anlehnung an afrikanische Kunst. Zugleich malt er erste Porträts wie „Die Jüdin“ (1907), das in der Ausstellung in der Farbgebung mit Picassos „Kauernder“ aus dessen Blauer Periode korrespondiert, oder „Die Bettlerin“ (1909) mit Anklängen an Cézanne. Die skulpturale Wirkung von Modiglianis „Karyatiden“ (1911) wird mit Rodin und Lehmbruck („Mädchen“) in Beziehung gesetzt, aus dieser Zeit ist auch seine Beschäftigung mit antiken Torsi belegt. Aktzeichnungen und Körperbilder von Schiele, Heckel und Kirchner erweitern die expressionistische Perspektive.

 

Mit einer Serie von Malern, Bildhauern und Schriftstellern, die Modigliani in seinem Atelier am Montparnasse abbildet, beginnt die große Zeit von Modiglianis Porträtmalerei zwischen 1910 und 1920, die in der Stuttgarter Ausstellung mit einer Fülle von Gemälden mit vielen Leihgaben aus Privatsammlungen und Museen wie dem MoMa New York oder dem Centre Pompidou in Paris aufwartet. Diese Freundschaftsbilder aus der Zeit des 1. Weltkriegs zeigen in ihrer farblichen Abstraktion, oft frontal, flächig und linear vereinfacht, eine wachsende Meisterschaft in der individualisierenden und zugleich den persönlichen Ausdruck multiperspektivisch stilisierenden Darstellung. Juan Gris, Chaim Soutine, der Kunsthändler Paul Guillaume oder der Mäzen Léopold Zborowski sind dafür besonders beeindruckende Beispiele. Zur gleichen Zeit entstehen die großartigen Mädchen- und Frauenporträts seiner Modelle, die allein schon durch ihren äußeren Habitus (Kurzhaarfrisuren, männliche Kleidung), mehr noch durch ihre blicklosen Augen, verlängerte Halspartie und das Androgyne dieser „femmes garçonnes“ einen modernen, emanzipierten Typus verkörpern. Als Amadeo Modigliani vor dem Ende des 1. Weltkriegs mit der jungen Jeanne Hébuterne, die er als 19jährige Kunststudentin kennenlernt und in Akten und Porträts malt, an die Côte d’Azur reist, wo ihre gemeinsame Tochter zur Welt kommt, hellen sich die Hintergründe seiner letzten Bilder auf im südlichen Licht. 1920 stirbt Modigliani an den Folgen einer tuberkulösen Meningitis in Paris, kurz darauf nimmt sich die hochschwangere Jeanne, die er noch heiraten wollte, mit einem Sprung aus dem Fenster das Leben. – Die Ausstellung in der Staatsgalerie Stuttgart ist bis zum 17. März 2024 zu sehen.

 

 

Lieder von der Wiege bis zur Bahre

Sonderausstellung „Singen! Lied und Literatur“ im Literaturmuseum der Moderne in Marbach

Eine interaktive „SongToolBox“ lädt mit Scheinwerfern, Kamera und Mikrofon zum Singen, Rappen oder Tanzen der Exponate ein, die bei der Sonderausstellung „Singen! Lied und Literatur“ im Marbacher Literaturmuseum der Moderne präsentiert werden. Klassik, Schlager, Pop und Rock, Wiegenlieder und Hochzeitsgesänge sind das Repertoire, welches in der Ausstellung aus den Beständen des Deutschen Literaturarchivs nicht nur gezeigt wird, sondern im kreativen Selbstversuch wieder lebendig werden kann. Die Videos im Karaoke-Modus können anschließend vom Bildschirm aufs eigene Handy gescannt und sogar als Soundtrack wieder Teil der Ausstellung werden.

 

Auf diese Weise versucht die von Gunilla Eschenbach kuratierte Schau den Bezug zwischen der traditionellen Gattung des Lieds mit seinen Metamorphosen bis in die Gegenwart und modernen digitalen Anwendungsformen herzustellen. Die ca. 50 von 5000 Notendrucken und an die 3000 Autographen vom 18. Jahrhundert bis heute aus der Musikaliensammlung des Literaturarchivs sind dazu in einer großen Rundvitrine und auf fünf Bilderwänden im Sonderausstellungssaal exponiert. „Geburt“ ist das erste Kapitel: Am Anfang der Sprache ist der Klang, und kindlicher Spracherwerb geschieht primär auch über das gesungene Wort. Der Prager Komponist und Tagore-Übersetzter Hans Effenberger hat für seine mehrsprachige Familie ein indisches Wiegenlied notiert, vom deutschjüdischen Exilkomponisten Ignatz Waghalter wird das Titelblatt seiner Liedsammlung „Singing with Great Masters“ gezeigt, bei der Melodien berühmter Musiker wie Beethoven Situationen aus der kindlichen Lebenswelt unterlegt werden: es gibt ein „Lied bei Schneefall“, ein „Lied bei Sommerregen“, Lieder beim Schaukeln und Schlittenfahren.

 

„Natur“ ist das nächste Stichwort, beim Wandern wird gesungen - nicht immer und überall mit Begeisterung, wie vom Philosophen Theodor W. Adorno bekannt ist, für den das zwanghafte Singen beim Familienausflug so verhasst war wie die Sentimentalität der romantischen Naturverklärung. Die Originalhandschrift der Schiller-Vertonung von Johannes Brahms‘ „Der Abend“ ist eines der kostbaren Blätter der Ausstellung, auch der Erstdruck von Carl Maria von Webers „Unbefangenheit“ eines unbekannten Autors, oder die Vertonung eines Rilke-Gedichts („Du Dunkelheit aus der ich stamme“) in Schönberg-Manier illustrieren das Thema. Wobei Rilke in einem Brief auch seinen Ärger über Komponisten artikuliert, die seine Gedichte ungefragt „in seine Musikkonserven einlegen“. In einer Lied-Lounge stehen die Lieder, die durch Studierende diverser Musikhochschulen neu aufgenommen wurden, zum Hören bereit. Der „Liebe“ als Thema von Kunstlied und Schlager ist ein weiterer Bereich der Ausstellung gewidmet. Hier korrespondiert das Original von Friedrich Silchers „Lorelei“ (Tübingen 1853) mit dem einer Miss Annie Cousins verehrten Londoner Notenblatt von „That Fatal Loreley“ samt Schiffbruch im Mondenschein. Und Silchers Liedersammlung „Der Liebe Laut“, einer Tübinger Studentin reich verziert zum Abschied geschenkt, wird am Vitrinenrand so kommentiert: „Alben wie dieses sind Überlieferungsträger einer Lied- und Gesellschaftskultur, in der Frauen wichtige Akteure sind. Frauen singen, komponieren und notieren Lieder, Frauen erhalten Lieder geschenkt, damit sie sie singen.“ Was sich im Berlin der goldenen 1920er Jahre mit Shimmys wie „“Erst hat er zu ihr Sie gesagt“ wohl etwas ändert.

 

Friedrich Silchers Liedschaffen ist auch im Bereich „Politik“ repräsentiert. Bei Studentenunruhen in Tübingen 1824 wurde eines seiner Lieder zur Melodie der Marseillaise gesungen, die Freiheitsbestrebungen der 1848er-Revolution spiegeln sich auch im politischen Lied. Schillers „Ode an die Freude“, als Freundschaftsgabe an seinen Mäzen Christian Gottfried Körners geschickt und von ihm als „Rundgesang freyer Männer“ vertont, steht hier neben Rudolf Alexander Schröders und Hermann Reutters Entwurf einer neuen deutschen Nationalhymne nach 1945, der so wenig ankam wie die Idee nach der Wende, Brechts „Kinderlied“ mit Haydns Hymne zu verbinden. Sterbe- und Grablieder im Lebensbogen „von der Wiege bis zur Bahre“ bilden die letzte Station der Ausstellung. Von der Band „Ton Steine Scherben“ ist Rio Reisers Illustration ihrer „Schwarzen Platte“ mit Tarotkarten zu sehen, und im Corona-Sommer 2021 vertont Immo Schneider in Washington Hermann Hesses letztes Gedicht über das Knarren eines morschen Baums: „Splitting geknickter Ast / Hanged schon Jahr um Jahr.“ Die ästhetische Verschränkung von Sprache und Musik als wesentliches Merkmal des Lieds ist hier auch Zeitdokument.

 

22. September 2023

The Beginning of Something Else

Kunstmuseum Stuttgart zeigt Werkgruppen des Nature-Art-Künstlers Wolfgang Laib

 

Im Untergeschoss des Kunstmuseums Stuttgart ist seit 2005 ein „Wachsraum“ des Künstlers Wolfgang Laib installiert. Es ist einer von sieben weltweit mit Bienenwachsplatten ausgekleideten Räume, die neben dem visuellen auch ein olfaktorisches Erlebnis ermöglichen. Doch in Baden-Württemberg, der Heimat des 1950 in Metzingen geborenen Künstlers, ist die Ausstellung und Installation seiner Arbeiten (bis zum 5. November) auf den drei Ebenen des Kubus die erste große Präsentation seit den 1990er Jahren. Mit Ateliers in Südindien und New York und seinem Lebensmittelpunkt bei Biberach ist Wolfgang Laib, der 1982 im Deutschen Pavillon der Biennale in Venedig und bei der Documenta 7 und 8 in Kassel vertreten war und 2015 den Praemium imperiale für Skulptur in Tokio verliehen bekam, ein global renommierter Künstler, dessen fragile Installationen und skulpturalen Objekte in der unmittelbaren Begegnung mit der Natur entstehen.

 

Zwei eigens für die Stuttgarter Ausstellung geschaffene Arbeiten wirken in besonderer Weise auf den Besucher und führen ins Zentrum der reduzierten Formensprache und geistigen Vertiefung von Laibs Kunst. Auf der oberen Ebene des Kubus sind im „Reisfeld“ Tausende und Abertausende winziger Reishaufen in einer Gitterstruktur in Reih und Glied, doch keineswegs schnurgerade auf der Bodenfläche aufgeschüttet, dazwischen stehen, in burmesischen Lack gefasst, ein an Tempelanlagen des antiken Mesopotamien erinnerndes Zikkurat und zwei Monumentaltreppen. Im Mittelstock hat Wolfgang Laib einen quadratischen, leuchtend gelben Blütenstaubteppich aus Kieferpollen gelegt, der sich nur durch den Blick von oben auf der Galerie erschließt. auf der unteren Ebene zeigt ein „Milchstein“ in der Verbindung von weißem, glattem Marmor und organischem Nährstoff die  Symbiose von Architektur und Natur auf anschauliche Weise. An sechs Sonntagen während der Ausstellung wird der Milchstein neu befüllt. 

 

Bienenwachs, Milch, Blütenstaub, Reis und Marmor sind die natürlichen Materialien, die Wolfgang Laib in einer Reihe von Werkgruppen für seine Kunst verwendet. Daraus entstehen „Reishäuser“ oder die „Stadt des Schweigens“, zu der sich Laib von den Wohntürmen des mittelalterlichen Italiens, den Lehmbauten Mesopotamiens oder der sakralen Architektur der persischen Zoroastrier inspirieren ließ. Die weichen Konturen und der wächserne Duft dieser archaischen Bauten sind auratisch wie auch die auf einem Holzgerüst gestapelten Wachsboote („Not Here“), die den Gedanken des menschlichen Lebens als eine unendliche Reise assoziieren. Grafiken, Entwürfe, Zeichnungen, Fotografien ergänzen die Ausstellung, zu der der Künstler auch ein eigenes Buch mit dem Titel „The Beginning of Something Else“ verfasst hat mit Texten und Bildern, die für sein Denken und Schaffen von besonderer Bedeutung sind. Kurze Texte aus dem Gilgamesch-Epos und Nietzsches „Zarathustra“, Mantras aus den Upanischaden und ein Gebet Franz von Assisis, Zitate von Novalis, aus Laotses Tao-Te-King und ein Essay zur japanischen Zen-Kultur erhellen Wolfgang Laibs spirituelles Fundament seiner Kunst. Während der Dauer der Ausstellung gibt es Workshops, Konzerte und ein von der Kuratorin und Museumsdirektorin Ulrike Groos moderiertes Künstlergespräch. Zum Abschluss tanzen am 4./5. November in Kooperation mit den Ludwigsburger Schlossfestspielen Sasha Waltz & Guests in einer Performance musikalische Improvisationen.

 

16. Juni 2023

Phasen des Surrealen

Daniel Richter mit Retrospektive beim „Summer of Painting” in der Kunsthalle Tübingen

 

Bis zum 3. Oktober präsentiert die Kunsthalle Tübingen in einer von ihrer Direktorin Nicole Fritz kuratierten Ausstellung das Werk eines der gegenwärtigen Künstlerstars der Postmoderne: Von Daniel Richter, der seit Mitte der 1990er Jahre in seiner Malerei mit unterschiedlichsten Inhalten und Ausdrucksformen experimentiert, werden in einer mehr als 50 Bilder (zum Teil mit 2x3 Meter Großformaten) umfassenden Retrospektive die wichtigsten Phasen seines Oeuvres gezeigt. Daniel Richters künstlerische Anfänge lagen im Bereich der Angewandten Kunst, in den 1980er Jahren entwarf er Plattencover und Plakate von Bands, später studierte er an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg Malerei. In der Auseinandersetzung mit dem figurativen neo-expressionistischen Stil von Martin Kippenberger und Sigmar Polke entwickelte Richter damals eine von abstrakt-ornamentalen Graffitis inspirierte Malweise: „Möglichst viel, möglichst aufdringlich, möglichst wenig narrativ“ charakterisiert der Künstler diese Wimmelbilder, die sich jedoch bald figurativ aufladen und vielschichtig interpretierbar werden.

 

Ein Beispiel dafür ist das Gemälde „Ich beobachte den Zerfall der Brote“ (1999), in dem sich Richter auf einen Horror-Comic bezieht, in dem der sadistische Gefängnisdirektor von seinen Insassen begraben wird und der Künstler sich im Sarg liegend mit dem aus der Grube nach oben Schauenden identifiziert. Politisch aufgeladen sind Riesen-Formate wie das nach der Bombardierung der US-Botschaft in Nairobi entstandene „Phienox“, in dem Richter auch Stilikonen wie die Kreuzabnahme und Zeitereignisse wie den Mauerfall einarbeitet. Auch Zeitungsfotos und generell der mediale Overkill führen zu bühnenartigen, allegorieträchtigen Historienbildern wie dem Gemälde „Europa – Immer Ärger mit der Sogenannten“ (1999), oder dem „Hotel Jugend“ mit seinen sich aufbäumenden Pferden vor einer bröckelnden Fassade über den Zerfall der Sowjetunion. Irgendwann hätten ihn diese politisch grundierten Theaterbühnen gelangweilt, sagt Daniel Richter, und so entstehen nach der Jahrtausendwende intimere Bilder, öfters mit dem seit Caspar David Friedrich bekannten Topos der Rückenfigur vor Landschaften. 

 

Im „Headbanger“ sitzt ein Mensch mit zerfaserndem weißen Rücken vor einer bunten Mauer, in „Natti Dread“ blickt ein grünlicher Avatar mit zerfetzter Fahne und Totenkopf auf dem Rücken in geäderten Gebirgsschluchten auf eine triefend tropfende neongelbe Nackte im Fels. Eine andere Szene im wie von Spinnweben überzogenen Gebirge mit einem sich unter tintigem Himmel anklammernden Bergsteiger mit Gitarre, überragt von einer aufrechten Wolfsfigur, kommentiert der Künstler im Titel: „Es liegt aber, sagte der Wolf, nicht in meiner Natur, dir zu helfen.“ Ironisiert werden solche Heldenfiguren wie ein Taliban oder der Marlboro-Man mit Cowboyhut auf einem Bergrücken in „Hey Joe“ (2011), und in„Sound  of the Suburbs“ sitzt eine verhüllte Figur hinter einem flächigen Gitter, von Tauben umflattert, auf einem schmutzig leeren Platz vor dem U-Bahn-Eingang am Berliner Bahnhof Zoo, mit einem einkopierten Selbstporträt des Künstlers am Rand. „Da hatte ich auch wieder eine schlechte Phase, eine richtige Scheißlaune und es lief einfach nicht gut“, kommentiert der Künstler dieses Bild. 

 

In den letzten Jahren, beginnend mit einem Reflex auf die surrealistisch verschobenen Porträts Francis Bacons, beschäftigt sich Richter wieder stärker mit der Abstraktion von Körperlichkeit. Er wolle „den Rucksack an Bedeutungen hinter mir lassen“, sagt er, und daraus ergibt sich ein ganz neuer, klar strukturierter Zusammenklang von Farbe, Linie und Fläche. Doch weiterhin sind Zitate aus dem Internet, alte Postkarten aus dem 1. Weltkrieg oder andere Zeitzeugnisse Ansatzpunkte für Daniel Richters malerische Phantasie und zeigen in seinen vieldeutig verschlüsselten Bildern den gesellschaftskritischen Ansatz seines Oeuvres.

 

9. Mai 2023

Algorithmen in künstlerischer Perspektive

Kunstmuseum Stuttgart zeigt „Shift, KI und eine zukünftige Gemeinschaft“

 

 „Kann eine KI denken wie ein Mensch? Was wird aus uns, wenn KI irgendwann schlauer ist als wir? Kann ein KI-Roboter gegen Einsamkeit helfen?“ Solche und andere Fragen zieren die Wände im zweiten Stock des Kubus im Stuttgarter Kunstmuseum: in seiner neuen Ausstellung setzen sich neun internationale Künstlerinnen und Künstler mit den Einflüssen und Auswirkungen Künstlicher Intelligenz als einer Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts auseinander. In Zusammenarbeit mit dem Herforder Museum für Architektur, Kunst und Design (Marta) setzt sich das Ausstellungsprojekt „Shift“ mit den absehbaren Verschiebungen und dem gesellschaftlichen Wandel durch KI auseinander und sucht in diesem Zusammenhang nach neuen kooperativen Formen von Gemeinschaft. Am Begleitprogramm der bis zum 21. Mai dauernden Ausstellung sind auch das Stuttgarter Zentrum für Simulationswissenschaft (SC SimTech) und das Stuttgart/Tübinger Cyber Valley beteiligt.

 

Welche Möglichkeiten und Risiken entstehen mit Künstlicher Intelligenz, wie verhält sich KI zu Konzepten von Vernunft, Freiheit und Verantwortung, wie ließe sich ein ethischer Umgang mit ihr gestalten? Mit Hilfe eines Algorhythmus entwickelte die Künstlerin Heather Dewey-Hagborg aus einer DNA-Probe der US-amerikanischen Whistleblowerin Chelsea Manning dreißig Entwürfe möglicher Porträts der IT-Spezialistin, die während des Irakkriegs auf Wiki-Leaks geheime Militärinformationen veröffentlichte und sich während ihrer Haft einer Geschlechtsumwandlung unterzog. „Probably Chelsea“ zeigt als Hänge-Installation diese Gesichtsmasken, während man im nächsten Raum Louisa Clements „Repräsentantinnen“ begegnet. Auf der Basis chinesischer, von KI gesteuerter Sexpuppen, denen sie ihr eigenes Aussehen und ihre Stimme verlieh, fütterte sie diese humanoiden Roboter mit ihren persönlichen Daten. Wenn man eine dieser schick gekleidet in bequemen Sesseln loungenden Damen zum Beispiel nach ihrem Alter fragt, kann es passieren, dass sie mit „This is a secret“ antwortet. Doch mit jedem Besucher-Kontakt während der Ausstellung lernt das mechanische Gehirn hinzu: durch die Kommunikation mit der Außenwelt entgleitet der dreidimensionale Avatar der Kontrolle der Künstlerin.

 

Einen anderen Ansatz verfolgt Christian Kosmas Mayer in seiner 8-Kanal-Installation „Maa Kehru“, die er in Zusammenarbeit mit Sprachakustikern der TU Dresden realisiert hat. Mit Hilfe des beweglichen Zungenstücks einer 2000 Jahre alten männlichen Mumie synthetisierte er mittels KI deren Stimme und erzeugt dadurch „Unsterblichkeit“, die sich für den Betrachter zwischen in Särgen verpackten „Mumien“ als röhrendes Artifakt materialisiert. Stülpt man sich im nächsten Raum Kopfhörer vor dem Video „Nimlia Cétii“ über, so hört man zu den kalligrafischen Bewegungen das Wispern des Bacillus subtilis natto: Die finnische Künstlerin Jenna Sutela bezieht in ihre Arbeiten zu Natur und Technologie auch Organismen wie Bakterien oder Schleimpilze ein. In der KI-Forschung gelten ja Schleimpilze als „intelligent“, weil sie in der Lage sind, den kürzesten Weg zwischen zwei Nahrungsquellen zu finden. Andere Video-Arbeiten in der Ausstellung sind der Animationsfilm „in vivo – in vitro – in silico“ des Berliner Künstlerkollektivs Kennedy+Swan über hybride Lebensformen, die als Xenobots aus den Zellen von Krallenfröschen entwickelt wurden, und die Einkanal-Installation „SocialSim“ von Hito Steyerl, in denen KI-gesteuerte Figuren in simulierten Tänzen auftreten. 

 

6. Februar 2023

Demaskierung der Gesellschaft

„Glitzer und Gift der Zwanzigerjahre“: George-Grosz-Bilderschau in der Stuttgarter Staatsgalerie

 

 

Ursprünglich war die Ausstellung „George Grosz – The Relentless Eye“ im Frühjahr 2020 für das New Yorker Metropolitan Museum of Art geplant, doch sie fiel der Corona-Pandemie zum Opfer. Nun hat die Staatsgalerie Stuttgart das Projekt adaptiert und präsentiert die Leihgaben aus den USA und Europa mit zusätzlichen Werken aus dem eigenen Bestand unter dem Titel „Glitzer und Gift der Zwanzigerjahre – George Grosz in Berlin“ im Altbau und Grafikkabinett bis zum 26. Februar 2023. Das „unerbittliche Auge“, mit dem der Berliner Künstler, der 1933 auf der Flucht vor den Nazis in die USA emigrierte, dem amerikanischen Publikum nahegebracht werden sollte, ist in vielen der ca. 100 Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen und Druckgrafiken wahrnehmbar.

 

„Dass diese Welt hässlich, krank und verlogen ist“, motiviert George Grosz von Beginn an in seinem künstlerischen Schaffen. Bevor der überzeugte Pazifist 1917 zum Kriegsdienst im 1. Weltkrieg eingezogen wird und bald in der Psychiatrie landet, malt er das Chaos und die Katastrophe in solchen Alptraumbildern wie „Metropolis“ (in der Ausstellung als Leihgabe vom Museum Thyssen-Bornemisza aus Madrid): Mit dem Pendant der „Widmung an Oskar Panizza“ aus dem Besitz der Staatsgalerie zeigen die beiden Gemälde die Menschenhölle des Molochs Berlin in blutigem Rot und expressionistischen Perspektivverzerrungen. Grafiken der ersten Grosz-Druckmappe präsentieren Straßen- und Kaffeehausszenen, das Erlebnis der Großstadt wird auch im Kontext von Vergnügen und Prostitution thematisiert. Im Gemälde „Selbstmord“ porträtiert sich Grosz als Dandy mit Spazierstock und Hund im Rotlicht-Milieu, als Graf Ehrenfried sitzt er als „Der Liebeskranke“ mit Hund und Skelett im leeren Café.

 

„Ach knallige Welt, du seliges Abnormitätenkabinett“ ist ein Blatt aus dem Zyklus „Ecce Homo“ betitelt, in dem die Demaskierung der Gesellschaft nach der Katastrophe des 1. Weltkriegs zum Hauptthema des Künstlers wird. Ein Reichswehrgeneral mit nussknackerartig aufgerissenem Mund ist „Agamemnon“, in einer Tuschgrafik von 1919 treten Militärs als „Zuhälter des Todes“ auf. Eines der schönsten kolorierten Druckgrafik- Blätter ist das satirische „Schönheit, ich will dich preisen“: eine Kokotte, von grinsenden Männerköpfen umringt. Karikatur ist dabei ein verbindendes Stilmittel, das mit surrealer Kraft auch in solchen Skizzen wie der „Großstadtstraße mit Kutsche“ (um 1920) oder in der Zeichnung „Christus mit der Gasmaske“ (1927) zum Ausdruck kommt. Mehrmals steht Grosz in den angeblich „Goldenen Zwanzigerjahren“ in Berlin wegen Gotteslästerung oder „Angriff auf die öffentliche Moral“ vor Gericht.

 

Am Ende der 1920er Jahre verändert sich Grosz vom scharfen Ankläger zum kühlen Beobachter, wie zum Beispiel in den 1926 mit Feder als Aquarell gemalten „Passanten“. Auch der „Spießbürger“ (1928) hat nicht mehr den schockierenden Biss der Nachkriegszeit, es entstehen Landschaften und Stilleben, wie das lange für verschollen gehaltene Ölbild „Zeitideen“, in dem die Malerpalette von einer Faust am Boden zerstört wird. Ein später Reflex auf die symbolhaft angereicherte Gesellschaftskritik der frühen 1920er Jahre ist die großformatige „Sonnenfinsternis“ von 1926: der rotgesichtige Reichspräsident Hindenburg am Pokertisch, umgeben von kopflosen Bankiers und einem Einflüsterer der Rüstungsindustrie. 

„Abgedreht“

Marbacher Literaturmuseum zeigt eine Ausstellung zum Verhältnis von Literatur und Film

 

Von Alfred Hitchcock stammt der Witz von den beiden Ziegen, die die Rollen eines Films auffressen, der nach einem Bestseller gedreht worden ist, wonach die eine Ziege zur andern sagt: „Mir war das Buch lieber.“ Über Literaturverfilmungen und die vielfältigen Beziehungen von Autoren zu den beiden so unterschiedlichen Genres hat das Deutsche Literaturarchiv in Marbach eine Ausstellung unter dem Titel „Abgedreht“ konzipiert, die vom 25. September 2022 bis zum 11. März 2023 im Literaturmuseum der Moderne gezeigt wird. Anhand von sechs Filmen und ihren Produktionsbedingungen aus literarischen Vorlagen werden exemplarisch die wechselseitigen Beziehungen dargestellt, die Exponate stammen größtenteils aus den Nachlässen im Archiv, mit Drehbüchern, Entwürfen, Treatments und Szenarios zu Filmprojekten, die mit oder ohne die jeweiligen Autoren verwirklicht wurden.

„Film braucht Geschichten, Handlungen, Stoffe – da ist die Literatur ein wunderbarer Fundus“, erklärt dazu die Museumsdirektorin Vera Hildenbrandt.

 

Ein Regiestuhl, darauf Heinrich Manns Roman „Professor Unrat“, auf einem runden Café-Tischchen dazu die Projektion einer Szene aus Joseph von Josef von Sternbergs Film „Der blaue Engel“ aus dem Jahr 1930. „Unter Mitwirkung des Autors geschrieben von Carl Zuckmayer und Karl Vollmoeller“ steht auf dem Drehbuch, gegenüber der Vielschichtigkeit des Romans lebt die Filmversion vor allem von der Aura Marlene Dietrichs und des Titel-Antihelden Emil Jannings; von zeitgenössischen Kritikern wird den Drehbuchautoren vorgeworfen, sie hätten den gesellschaftskritischen Roman für die nationalkonservative UFA „verzuckmayert“. Was bleibt vom Text übrig, ist bei vielen Literaturverfilmungen die Frage. Was kann andererseits das Medium Film, was das Medium Literatur nicht kann, und wie beeinflussen filmische Stilmittel wiederum mit Schnitt- und Montagetechniken, Rückblenden und Überblendungen, Kameraeinstellung und Schauplätzen die Literatur? Das 1957 gedrehte Werk des Psychiaters und Filmautodidakten Ottomar Domnick ist dafür ein atypisches Beispiel: er hat zwar keine literarische Vorlage, doch der junge Hans Magnus Enzensberger liefert zu den Verdrängungen und Verfolgungsängsten eines Druckereiarbeiters in einer anonymen Großstadtkulisse den Voice-Over-Sprechkommentar. In einer detaillierten Liste von Locations und Einstellungen des in Stuttgart gedrehten Films kann man Domnicks Intentionen nachverfolgen. 

 

Vitrinen und hängende Tafeln mit Stills in Filmstreifen-Design zeigen auch das Umfeld der ausgewählten Filmbeispiele. Erich Kästners „Das doppelte Lottchen“ zum Beispiel hat eine komplexe Entstehungsgeschichte. Bevor der Roman 1949 erscheint, wurde der Stoff zwölf Jahre zuvor von Kästner einem amerikanischen Filmproduzenten angeboten mit dem Vorschlag, den damals neunjährigen Kinderstar Shirley Temple für die Zwillinge-Rolle zu besetzen. Nachdem er von den Nazis offiziell mit Schreibverbot belegt war und gleichzeitig unter Pseudonym am Drehbuch des UFA-Knüllers „Münchhausen“ (1943) mitschreiben konnte, bot Kästner den Stoff unter dem Titel „Das große Geheimnis“ vergeblich zur Verfilmung an, der Text des Romans war dann schließlich nahezu identisch mit dem 1950 verfilmten „Das doppelte Lottchen“, in dem der Autor als allwissender Erzähler auftrat. 

 

Hollywood und seine Filmindustrie während der Nazizeit und in den Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg sind in der Ausstellung durch literarische Emigranten wie Alfred Döblin und durch Volker Schlöndorffs Verfilmung von Max Frischs „Homo Faber“ mit Sam Shepard dokumentiert. In einem Brief William Dieterles an Claire Goll analysiert der Filmregisseur die Präferenzen der Branche: „So viele begabte Schriftsteller sitzen hier, die nie etwas erreichen konnten im Film-Business (um nur zwei zu nennen, Döblin und Heinrich Mann). Nein, es hat nichts mit der Qualität zu tun, sondern eher im Gegenteil: Mittelmäßigkeit und schlechtes Niveau werden bevorzugt. Die guten Sachen – Steinbeck, Hemingway, etc. – nur dann, wenn sie das Publikum bereits durchgesetzt hat.“ 

 

Mit dem von Alexander Kluge 1962 initiierten „Manifest Junger Deutscher Film“ und dem Slogan „Papas Kino ist tot“ ändert sich in Deutschland - auch nach dem Vorbild der französischen Nouvelle Vague – erst allmählich der Anspruch an Literaturverfilmungen. Thomas Strittmatter verarbeitet sein 1983 veröffentlichtes Theaterstück „Der Polenweiher“ zu einem Hörspiel und Drehbuch für einen Fernsehfilm, Elfriede Jelinek schreibt das Drehbuch zu Ingeborg Bachmanns „Malina“, und das Serien-Projekt „Babylon Berlin“ nach den Romanen Volker Kutschers mit dem Regie- und Drehbuchautoren-Team Tom Tykwer, Hendrik Handloegten und Achim von Borries markiert den vorläufigen Endpunkt einer Entwicklung, die biografisch, ästhetisch und produktionstechnisch in der Ausstellung mit vielerlei Facetten angetippt wird. Die Skepsis der Autoren gegenüber dem Medium Film kommt in Ingeborg Bachmanns Äußerung zum „Malina“-Projekt recht deutlich zum Ausdruck: „Die Aktion (im Roman) ist ja ganz ins Innere verlegt“ – während jede Literaturverfilmung die Freiheit der Imagination einengt, indem sie statt der Phantasie des Lesers bewegliche Bilder produziert. Dagegen Jelinek als Drehbuchautorin: „Ich habe mit dem Drehbuch eine Art Filmpartitur geliefert, aus dem der Regisseur seinen Film gemacht hat, und zwar ohne jegliche Absprache mit mir.“ Danach publizierte sie „Malina – ein Filmbuch“.

 

22. September 2022

 

„I do if I don’t”

Große Werkschau des Installationskünstlers Tobias Rehberger im Kunstmuseum

 

An der Hajek-Skulptur auf dem Kleinen Schlossplatz hat sich der in Esslingen geborene Jung-Punk in seiner Jugend mit Gleichgesinnten getroffen, mit 21 zog es Tobias Rehberger an die Städelschule für Bildende Künste nach Frankfurt, wo er bei Martin Kippenberger studierte und seit 2001 als Professor lehrt. Ab heute zeigt das Kunstmuseum Stuttgart (bis zum 28. August) auf seinen drei Kubus-Ebenen in einer großen Werkschau zentrale Themenkomplexe seines Schaffens. Besonderer Clou der Ausstellung ist eine interaktive Lichtinstallation, bei der die zum Schlossplatz ausgerichtete Fassade des Kunstmuseums interaktiv mit Formen und Textsignalen des Künstlers bespielt werden kann. Von einem Pult aus neben dem Calder-Mobile können Leuchtelemente angesteuert werden, die zum Rhythmus der Songs pulsieren, die von Passanten via Smartphone über Bluetooth eingegeben werden: besonders in den Abendstunden eine spektakuläre Klang-Farb-Licht-Kulisse.

 

Tobias Rehbergers Affinität zur Alltagskultur und der kritischen Auseinandersetzung damit wird schon am bunt mit Nonsense-Plakaten beklebten Glassockel des Kubus aufgegriffen. Im Innern begegnet man zunächst Rehbergers 40 Blumen-Vasen-Porträts von Künstlern und Sammlern in Vitrinen, Elizabeth Peyton zum Beispiel mit Gerbera aus Wachs, William Kentridge mit Baumwolle aus Silikon. 200 Lampen bilden zusammen mit lamettaartigen Farbbändern eine Lichtinstallation im zweistöckigen Mittelraum, und die drei in Gelb, Rot und Lila bemalten Termitenhügel aus Zellulose, Erde, Holz, Kot und Speichel variieren mit ihren Titeln das Motto der Ausstellung: „I do if I don’t“ – was soviel heißen könnte wie „ich tu was, wenn nicht ich es tue“ und damit auf Rehbergers erweiterten, den kreativen Prozess vom Künstler auf die Inspiration durchs Material verlagernden Kunstbegriff abhebt. 

 

Design und Alltagsphänomene, Skulptur und Rauminszenierungen gehen bei Tobias Rehberger Hand in Hand.  Slogans werden ironisch hinterfragt, wenn zum Beispiel im Lichtobjekt „Freedom is indivisible“ das O nicht funktioniert und so der ganze Spruch dysfunktional wird. „Free Parking / Free Coffee / Freedom“ ist in seiner Parallelität ein ähnlich absurdes Muster, in einer anderen Leuchtanzeige wird das „Everything“ in „Everything happens for a reason“ abwechselnd durch „Nothing“ ersetzt. Als witzige denglische Kritik am Kapitalismus könnte man den aus Neonröhren leuchtenden Slogan „I’m doing it just because of the coal“ (= Geld!) verstehen. Labyrinthisch sind diese Neon-Skulpturen auf der zweiten Ebene des Kubus präsentiert, in den Fluren dazwischen kleben Rehbergers Dazzle-Tapeten, deren Op-Art die Räume in Schwingung versetzen.

 

Knallbunte Wohnlandschaften aus Styropor erwarten den Besucher auf der dritten Ebene, garniert mit überdimensionalen Gummibären und weißen Atompilzbäumen, die um einen japanischen Tee-Pavillon herum gruppiert sind. Zu einer eigens für die Ausstellung im Kunstmuseum entworfenen Keramik-Edition (limitiert auf 222 Stück zum Preis von 777 € für Becher, Schüssel und Teller) kocht Rehberger, der von New York bis Istanbul, von Rom bis Shanghai international gefragt ist, zu bestimmten Terminen auch asiatisch. Aus seinem Frankfurter 3D-Druck-Studio hat er dazu nachtblaue Sitzmöbel in Form von Fäusten und Büsten von Marx, Lenin und Mao aufgebaut. Putin fehlt noch.

 

26. März 2022

Von der Raumskizze in die dritte Dimension

„Gego. Die Architektur einer Künstlerin“ als Sonderausstellung im Kunstmuseum

 

Vor neun Jahren hat das Kunstmuseum Stuttgart schon einmal eine Ausstellung der deutsch-jüdisch-venezolanischen Künstlerin Gego („Line as Object“) veranstaltet. Die damalige Retrospektive galt einer Künstlerin, die vor dem Zweiten Weltkrieg in Stuttgart an der Technischen Universität Architektur studierte und 1939 über London nach Venezuela emigrieren konnte. Aufgrund dieser Stuttgarter Jahre überließ die Fondación Gego in Caracas einen Teilnachlass mit 100 Arbeiten auf Papier und weiteren Objekten dem Kunstmuseum als Dauerleihgabe. Daraus entstand ein Forschungsprojekt, in welchem vor allem das grafische Werk Gegos und dessen künstlerische Konzeption mit ihrem Studium in Beziehung gesetzt wurden. Die von Stefanie Reisinger kuratierte Ausstellung „Gego. Die Architektur einer Künstlerin“ zeigt nun (bis zum 10. Juli) im Sammlungstrakt des Kunstmuseums diesen Aspekt von Gegos Oeuvre.

 

Gertrud Louise Goldschmidt studierte von 1932 bis 1938 Architektur an der Technischen Universität, einige ihrer Professoren wie Wilhelm Tiedje weckten ihr Interesse am Verhältnis von Körper und Raum, ihr Diplomvater Paul Bonatz sorgte mit dafür, dass sie als eine der letzten jüdischen Studentinnen in Deutschland Ende 1938 noch ein offizielles Abschlusszeugnis erhielt. In Venezuela versuchte die Emigrantin als Architektin Arbeit zu finden, doch ab 1953 entstehen erste Holzschnitte, Zeichnungen, Aquarelle und Gemälde, einige Jahre später vertritt sie unter ihrem Künstlernamen Gego Venezuela bei der Internationalen Kunstmesse in Brüssel, und 1960 erwirbt das New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) ihre Skulptur „Esfera“.

 

„Räume abstrahieren“ ist eines der Stichworte in der nicht chronologisch, sondern thematisch gegliederten Ausstellung im Kunstmuseum. In den Zeichnungen und Lithografien der 1960er Jahre gibt es neben Rastern und Schraffuren Andeutungen von Räumlichkeit und Perspektive: eine angedeutete Wendeltreppe, amphitheatralische Stufen. Dreidimensionale Effekte in den Skizzen werden dann auch in filigrane Strukturen im Raum übertragen. Während im “Movimento dinámico“ sich die parallelen Linien zu einer Woge aufstülpen und zusammenballen, oder bei „Balance“ ein kleiner weißer diagonaler Balken die lineare Textur aufbricht, ist es die in den 1980er Jahren entstandene Serie der „Bichos“ aus Stahldrähten, die utopische Raumkörper erzeugen. „Circulo sin fin“ ist eine wie als Architekturskizze leicht hingeworfene Aluminiumplastik, die wiederum das Verhältnis von Linie und Raum neu definiert. 

 

„Parallelarchitekturen“ nennt die Kuratorin Stefanie Reisinger solche Übertragungen in ein anderes Medium, welche Gego auch mehrfach als Kunst im öffentlichen Raum in Caracas ausprobiert. Zwischen 1972 und 1983 entstehen neun skulpturale Installationen, zum Beispiel „Cuerdas“ (Seile) im Parque Central und „Cuadrilátera“ (Vierecke) in der U-Bahn-Station La Hoyada. Studierende der Kunstgeschichte und Architektur an der Universität Stuttgart haben unter Leitung von Kerstin Thomas solche meist verschwundenen Arbeiten Gegos für die Ausstellung modellhaft rekonstruiert. Auch Performance spielte für Gego in Zusammenarbeit mit Tänzerinnen und Choreografinnen eine Rolle. In einem Video mit Sonia Sanoja wird eine bisher wenig bekannte Performance mit Gegos Seilen und Schnüren gezeigt, die eine eigene Aura ausstrahlt. In Kooperation mit der John-Cranko-Schule und der Fundación Sonia Sanoja wird diese Performance an zehn Terminen bis Juli im Kunstmuseum rekonstruiert, zwei Dutzend Führungen durch die Ausstellung werden angeboten. Ein 220-setiger, reich bebilderter Katalog (25 €) ist erschienen.

 

23. Februar 2022

Von der klassischen Moderne bis zur Gegenwart

Kunstmuseum Stuttgart zeigt einen Überblick aus 50 Jahren LBBW-Sammlung

 

1972 begann das Kunst-Engagement der Landesbank Baden-Württemberg mit der Unterstützung der Städtischen Spar- und Girokasse Stuttgart beim Ankauf des „Großstadt“-Triptychons von Otto Dix durch die damalige Städtische Galerie. Nun, zum 50jährigen der Sammlung LBBW, hat das Kunstmuseum Stuttgart auf allen drei Ebenen des Kubus eine Gesamtschau unter dem Titel „Jetzt oder nie“ (bis zum 20. Februar 2022) eingerichtet. Der Überblick zeigt die Vielfalt der Sammlung und ist zugleich ein Gang durch ein ganzes Jahrhundert deutscher und internationaler Kunstgeschichte.

 

Neben Dix, dessen „Anita Berber“ von den Anfang der 1930er Jahre gemalten „Melancholie“ und „Grabenkrieg“ flankiert wird, sind mit Schlemmer, Hölzel, Nay, Baumeister, HAP Grieshaber und Max Ackermann wichtige Künstler der Vor- und Nachkriegszeit aus dem Südwesten vertreten. Zwischen Abstraktion und geometrischen Konzepten, im Gegensatz zum subjektiven Informel von Malern wie Peter Brüning oder K.R.H. Sonderborg, bewegen sich dann Arbeiten von Günther Uecker (seine quadratische Nägel-„Reihung“ von 1972),  Anton Stankowski und Georg Pfahler. Thomas Ruffs C-Print „Haus Nr.10“ wirkt in seiner fotorealistischen Alltags-Tristesse als starker Kontrast zu Ben Willikens kühl stilisierten „Raum B1“ in Weiß und Grau. Markus Lüpertz und Georg Baselitz („Drei Streifen - Der Jäger“) signalisieren wiederum eine Rückkehr zur Figuration. 

 

Revoluionäre Aufbrüche, Entlarvung kultureller Klischees und Konzeptkunst der 1990er Jahre sind Hauptthemen im Mittelstock. Carina Brandes‘ surreal gesteigerte Inszenierung des weiblichen Körpers in ihrer fünfteiligen Fotoserie korrespondiert mit Cindy Shermans Porträt „Untitled“ (1982), das auf weibliche Stereotypisierung zielt. Franz Ackermanns Raumskulptur „Helikopter Nr.21“ mit VW-Wrack steht indirekt, wie sein „Kaufhausbrand“ direkt, im Zusammenhang mit dem Terror der RAF, während Josephine Meckseper in einer Vitrine-Installation die Kommerzialisierung der BRD-Gesellschaft mit CDU-Plakat, Staubsauger, Nylonstrumpfhosen und Klobürste thematisiert. Tracey Emins pinkfarbenes „Love Poem“ aus Neonröhren auf der Kubus-Innenwand über zwei Stockwerke bringt andererseits die Gefühlswelt ins Spiel. Martin Kippenberger („Krieg. Böse“) und Gerhard Richters Rakel-Gemälde „Lilien“ zeigen wichtige Positionen der Malerei am Ende des 20. Jahrhunderts, ebenso wie Neo Rauchs hyperrealer „Sonntag“ von 1997.

 

Seit den 1990er Jahren liegt das Schwergewicht der LBBW-Sammlung auf der Gegenwartskunst in ihren verschiedenen Facetten eines erweiterten Kunstbegriffs. Die Wunden der Erinnerung und Gegenwart thematisiert Sven Johne in seinem collageförmig zusammengesetzten Fotorelief „47 Faults Between Calais and Idomenei“, in dem er von der Flüchtlingskrise zurückblendet auf Orte wie Buchenwald, Srebenica, Novi Sad und Theresienstadt: an jeder Station hat Johne ein Detail des Bodens fotografiert, von aufgefüllten Schützengräben und Bombenkratern, Ruinen, Gräbern, Massakern. Krieg und Terrorismus spiegeln sich in Thomas Ruffs „Nacht 7“, in dem eine Wohnsiedlung mit Hilfe eines Kameralichtverstärkers fotografiert wurde und dabei eine unbestimmte Gefahr signalisiert. Überraschend wenig sind in der Ausstellung Video-Arbeiten vertreten: eine der seltenen Beispiele ist Anna Witts „Körper in Arbeit“, wo die Tätigkeiten in Großraumbüros mit den Calesthenics in Fitnessstudios und Textcollagen synchronisiert werden. Zur Ausstellung ist eine dreibändige Dokumentation der 3000 Kunstwerke umfassenden LBBW-Sammlung unter dem Titel „Jetzt oder nie – Moderne Zeiten / Die letzten Sonnenstrahlen des 20. Jahrhunderts / Kunst für ein neues Milennium“ erschienen.

 

Dietholf Zerweck

Wie man berühmt wird

Staatsgalerie Stuttgart zeigt „Becoming Famous. Peter Paul Rubens“

 

Er galt als der erfolgreichste Maler des Barock, seine Bilder erzielten schon zu Lebzeiten Höchstpreise. 1577 geboren und in Antwerpen aufgewachsen, begann Peter Paul Rubens seine Ausbildung im Alter von 15 Jahren bei flämischen Malern, 1598 wurde er in die Antwerpener Malergilde aufgenommen. Mit 23 begibt sich Rubens nach Italien, studiert dort die Malerei der Renaissance in Gemälden von Tizian und Veronese, kommt auch mit der Antike in Berührung, die ihm später wichtige Anregungen für seine mythischen Sujets und Imperatorenbildnisse vermittelt. Beim Herzog von Mantua wird er Hofmaler, dort entstehen seine ersten großen Porträts; Rubens ist auch für ihn in diplomatischer Mission unterwegs, so in Madrid und Rom, wo er für die Kirche Santa Maria in Vallicella ein Altar-Triptychon malt. Bei einem Besuch mit dem Herzog in Genua entsteht das prachtvolle Doppelporträt der Marchesa Geronima Spinola und ihrer Enkelin Maria Giovanna Serra. In der Ausstellung der Staatsgalerie (vom 22. Oktober bis zum 20. Februar 2022) mit dem Titel „Becoming Famous. Peter Paul Rubens“ ist es eines der Hauptwerke.

 

Rund 90 Gemälde und Grafiken aus eigenem Bestand und internationalen Museen und Privatsammlungen werden gezeigt, den Impuls für die vor allem dem Frühwerk von Rubens gewidmete Schau bildete ein Forschungsprojekt zur Sichtung der Bestände der Staatsgalerie. Der gerade zum Vorsitzenden des Centrum Rubenianum in Antwerpen ernannte Nils Büttner, Professor an der Stuttgarter Kunstakademie, entwickelte zusammen mit der Kuratorin Sandra-Kristin Diefenthaler die Konzeption der Ausstellung, die auch auf die Marktstrategien und das Netzwerk des Künstlers Bezug nimmt: „Wie wurde Rubens der größte Influencer des Barock?“ lautet eine der Fragestellungen, und wie der Titel tragen auch die Ausstellungsräume in der Alten Staatsgalerie englische Überschriften: „Teamwork“ behandelt das Werkstattprinzip des Malers, der schon sehr früh die Ausarbeitung seiner Bilder seinen Mitarbeitern und Schülern überträgt, wie zum Beispiel bei den Porträtskizzen der römischen Imperatoren. Von „Hero und Leander“ hängen zum Beispiel zwei fast identische Ausführungen nebeneinander: das Original (um 1607 datiert) und eine kleinere Version von „Rubens und Werkstatt“. Sehr bald in seiner Karriere kann sich Rubens vor Aufträgen, insbesondere Porträts von Adligen und wohlhabenden Bürgern, kaum retten, in späteren Jahren malt er selbst vorwiegend nur noch Skizzen und überlässt die Ausführung seinem Team. Auch das Verhältnis von Original und Kopie wird in der Ausstellung thematisiert: einige Versionen seines Gemäldes „Anbetung der Könige“ von zeitgenössischen Malern aus dem 17. Jahrhundert zitieren das Original von 1610, welches im Prado in Madrid hängt. Und die „Marke Rubens“ wird auch in Kupferstichen vertrieben, wie in seiner „Amazonenschlacht“ oder dem „Engelsturz“. 

 

Aus einer Privatsammlung in Antwerpen stammt die Leihgabe eines vermutlich 1604 entstandenen frühen Selbstbildnisses von Rubens, und im mit dem Motto „Think Big“ betitelten Hauptraum zeigt die Staatsgalerie eine Kopfstudie, welche erst im Verlauf des Forschungsprojekts als Original identifiziert wurde. Statt der Breitwandformate von Rubens-Gemälden mit wimmelnden Leibern, wie sie etwa in der Münchner Alten Pinakothek oder in den Uffizien von Florenz zu sehen sind, konzentriert sich die Stuttgarter Ausstellung bei ihren Originalen auf Porträts. Neben dem schon erwähnten, die zeremonielle Armhaltung geometrisch komponierenden Spinola-Doppelporträt (1605) sind das im Hauptraum das ein Jahr später entstandene „Veronica Spinola Serra“ oder das Bildnis der Brüsseler Goldschmiedefamilie Staes von 1611. Stark im individuellen Ausdruck ist das „Brustbild des Philosophen Seneca“, interessant in ihrem fast identischen Bildprogramm die beiden Bilder des „Heiligen Sebastian“ – einmal ein sicheres Original, „von Engeln gepflegt“ aus dem Palazzo Barberini in Rom, zum andern aus einer Londoner Privatsammlung. Zur Technik dieses Bildes heißt es dazu im prächtigen, inhaltsreichen 343seitigen Katalog: „Die Grundierung ist mehrschichtig. Über einer ockerbraunen Lage wurde eine zweite, deckende graue Schicht aufgetragen, die an einigen Stellen noch durch die Malschichten sichtbar ist.“

Den schon zu Lebzeiten international gefeierten Malern zeigt der Film „Ein Leben in Euorpa“, wie Rubens in der heutigen Porträtfotografie rezipiert wird, ist in einem eigenen Ausstellungsraum („Things Matter“) dargestellt. Im Beiprogramm zur Ausstellung gibt es Konzerte, Workshops und ein flämisches „Biertasting“.


23. Oktober 2021

 

 

Joseph Beuys und sein gesellschaftsverändernder Kunstbegriff

Kunsthalle Vogelmann zeigt „Ein Woodstock der Ideen“ mit dem Künstler in Achberg

 

Etwas reißerisch ist der Titel der neuen, gemeinsam mit dem Museum Ulm veranstalteten Ausstellung in der Kunsthalle Vogelmann in Heilbronn: „Ein Woodstock der Ideen“ beschäftigt sich zum 100. Geburtstag von Joseph Beuys, der in diesem Jahr gefeiert wird, mit dem Wirken des kontroversen Künstlers in Achberg nahe dem Bodensee und weiteren Kontakten im deutschen Süden. Mit Rockmusik hat das in den 1970er Jahren gegründete Internationale Kulturzentrum Achberg (INKA) zwar nichts am Hut, doch die Träume und Vorstellungen von einem Miteinander in einer humaneren Gesellschaft im Dreiklang von Kunst, Politik und Gesellschaft waren von Anfang an Programm – und sind es bis heute. Beuys kam 1973 zum ersten Mal zu einem Vortrag und später regelmäßig auch zu Kunstaktionen. Davon zeugen Fotos und Dokumente im Eingangsbereich zur Ausstellung, wie zum Beispiel der „Aufruf an Alle“ (1978), in dem der Künstler einen „Dritten Weg“ jenseits von Kapitalismus und Kommunismus formuliert. Zu seiner Parole „Jeder Mensch ist ein Künstler“ sind Beuys‘ mit Kreide geschriebene Tafelskizzen großformatig reproduziert, mit dem programmatischen Satz: „Aus der Anschauung der Kunst ergibt sich, dass die Systeme verändert werden müssen.“

 

Filz war eines der bevorzugten Materialien von Objekten, Multiples und Installationen des Künstlers, als streng geometrische Plastik sind sein „Filzwinkel“ und „Filzkeil“, wie auch der von ihm nach eigenen Maßen entworfene „Filzanzug“ (1970) zu sehen, für Beys symbolisch in doppelter Hinsicht: „Er ist also einmal ein Haus, eine Höhle, die den Menschen abisoliert gegenüber allem anderen. Zum anderen ist er ein Zeichen für die Isolation des Menschen in unserer Zeit.“ Grafiken seines „Urschlitten“ und der „Holzschlitten“ aus seiner Installation „The Pack“ (1969) mit Filzrolle, Gurten, Stablampe und Fett versinnbildlichen Beuys‘ Beziehung zu naturnaher Unmittelbarkeit: Filz bedeutet Schutz, Fett ist Nahrung, Lampe und Gurte dienen dem Überleben. Beuys selbst spann dazu die Legende seiner Rettung durch Tartaren nach seinem Flugzeugabsturz 1944 auf der Krim.

 

Fotos und Objekte zu Beuys‘ monumentaler Installation „Honigpumpe am Arbeitsplatz“ für die Kasseler Documenta 1977 werden im Mittelstock der Kunsthalle Vogelmann gezeigt, doch auch hier liegt das Schwergewicht auf dem gesellschaftspolitischen Engagement des Künstlers. Wirtschaft, Direkte Demokratie, Befreites Denken, Umweltschutz und Friedensbewegung sind die Stichworte, an einer Wand hängt das Originalplakat zur Aktion „7000 Eichen“ bei der Documenta von 1982: „Es kommt alles auf den Wärmecharakter im Denken an“. Seine „Rose für direkte Demokratie“ in einem Messglaszylinder (1973) ist live reproduziert, im Plakat „La rivoluzzione siamo noi“ – Die Revolution sind wir (1971) zu einer Ausstellung in Neapel schreitet Beuys mit Hut, Anglerweste und Jeans optimistisch der Zukunft entgegen. In einem Poster für die Grünen zur Bundestagswahl 1980 („Der Unbesiegbare“) wird sein Friedenshase von einem Spielzeugsoldaten mit Gewehr ins Visier genommen. In audiovisuellen „Stationen“ kommen Zeitzeugen zu Wort.

 

Zwei Video-Dokumentationen im Obergeschoss zeugen von der soziohistorischen Vielschichtigkeit und dem Nachwirken des erweiterten Kunstbegriffs von Joseph Beuys und seiner „sozialen Plastik“ auf heutige Künstlergenerationen. An eine seiner spektakulärsten Aktionen erinnert der Film zu „I like America and America likes me“ 1974 in der New Yorker René Block Gallery, wo Beuys drei Tage gemeinsam mit einem lebenden Kojoten hinter Maschendraht interagierte: Little John stand stellvertretend für die indigene Bevölkerung der USA, in deren rituell-religiöser Vorstellungswelt Kojoten eine zentrale Rolle spielen, Beuys als in Filz gehüllter Performer in Hirtengestalt war umgeben von Exemplaren des Wall Street Journal als Symbol eines inhumanen Kapitalismus. „Coyoteria“ (2003) vom mexikanischen Künstler Yoshua Okón schlägt den Bogen zur aktuellen Situation an der Grenze, mit einem menschlichen, winselnden „Kojoten“ in Anzug und Krawatte.

 

28. August 2021 -„Ein Woodstock der Ideen“ ist bis zum 28. November 2021 in der Kunsthalle Vogelmann zu sehen.