Forum

CORONA

 

Maskenmusik

 

Es war im Mai, als die ersten Konzertveranstalter ihre Corona-Konzepte umsetzten und mit ausgeklügelten Abstandsregeln und Hygienemaßnahmen dafür sorgten, dass Live-Musik mit Publikum wieder möglich wurde. Freilich unter großen Einbußen an Zuhörerzahlen: erst 99, dann 500 war die Obergrenze, 25 Prozent wurde die magische Zahl. Aber bisher hat das gut funktioniert, statt der erforderlichen 1,5 Meter Abstand sind es in Konzert- und Theatersälen meist zwei bis drei Meter nach allen Seiten. Im Eingangsbereich und bis zum Platz ist Maske Vorschrift, danach oder spätestens mit Beginn der Vorstellung konnte sie abgelegt werden – wer möchte, kann sie natürlich aufbehalten.


Ab sofort gilt in hiesigen Risikogebieten Maskenpflicht auch während jeder Aufführung. Obwohl unter den AH-Bedingungen in der Stuttgarter Liederhalle, im Opern-, Schauspiel- und Theaterhaus oder im Ludwigsburger Forum die Infektionsgefahr gleich Null ist, müssen die Besucher nun maskenbewehrt durchhalten bis zum Ende der Veranstaltung. Schon jetzt waren trotz des auf ein Viertel reduzierten Angebots nicht alle verfügbaren Plätze besetzt. Wieviel Publikum sich unter Maske Musik, Ballett, Theater zumuten will, muss sich zeigen. Stell Dir vor es gibt Konzert, und niemand geht hin…

Mit Hoffnungsblick auf die Jubiläumssaison


Das Stuttgarter Kammerorchester feiert Dreivierteljahrhundert-Geburtstag


Im September feiert das Stuttgarter Kammerorchester ein besonderes Jubiläum, welches auf die gesamte Saison ausstrahlen soll: Das „älteste Kammerorchester der Welt“, wie es zuweilen werbewirksam tituliert wird, feiert sein 75jähriges Bestehen, und am Gründungsdatum – 18. September 1945 – gibt es ein quasi originales Replay des ersten Konzerts, das damals im Festsaal des Furtbachhauses im vom Krieg zerstörten Stuttgart unter der Leitung von Karl Münchinger stattfand. Concerti grossi von Vivaldi und Händel sowie eine Suite aus Johann Hermann Scheins „Banchetto Musicale“ standen damals auf dem Programm und waren zugleich ein Vorzeichen für Münchingers zukünftige Repertoirepflege. „Im Saal, auf den Galerien und auf dem Podium waren sie alle gleich schäbig gekleidet und mager. Gleich waren sie aber auch in einem: im Glauben an die tröstende und beglückende Macht ewiger Musik“, hieß es in der Festschrift zum 10jährigen Jubiläum des Orchesters 1955.

Damals war das Stuttgarter Kammerorchester schon zu einer „Weltmarke“ avanciert, mit Aufsehen erregenden Gastspielen in Nepal, Indien und China, erzählt Intendant Markus Korselt. Während Münchinger bis zu seinem Abschied 1987 die transparente Klangkultur des Orchesters vor allem im Repertoire vom Barock bis zur Klassik entwickelte, arbeiteten seine Nachfolger an dessen Ausweitung bis zur klassischen Moderne. Vor allem Dennis Russell Davies prägte die Vielfalt und Spannweite zwischen „Haydn Spaß“ und Philip Glass. Seit vergangener Saison verbinden sich Pioniergeist, Neugier und historisch informierte Aufführungspraxis unter der dynamischen Stabführung von Thomas Zehetmair. Der Salzburger Geiger und Dirigent wird in der kommenden Saison sechs der insgesamt vierzehn Stuttgarter Konzerte leiten; hinzu kommt sein „künstlerischer Partner“ Jörg Widmann, der als Komponist, Klarinettist und Dirigent zwei eigene Programm bestreiten wird.

„Glänzende Zeiten“ ist das Jubiläumskonzert am 19. September im Beethoven-Saal der Liederhalle betitelt, Zehetmair eröffnet mit Bach, Mozart und Béla Bartók. Im traditionellen Dreikönigskonzert dirigiert er Mozarts „Jupiter“-Sinfonie, Pierre-Laurent Aimard spielt Mozarts Klavierkonzert KV 595. „Russische Seele“ mit Tschaikowsky, Schostakowitsch und Sofia Gubaidulina, ein spätromantisches Programm mit Wagner (die Wesendonck-Lieder singt Okka von der Damerau), Mahler und Richard Strauss sind weitere Highlights der Saison. Heinz Holliger dirigiert Schönbergs „Verklärte Nacht“, die französische Geigerin Muriel Cantoreggi musiziert Serenaden und Suiten von Purcell, Bridge und George Antheil. 

Fortgesetzt wird die innovative Serie „Sternstunden“ im Stadtpalais: der Barockgeiger Daniel Sepec präsentiert „Händel meets Hendrix“, von Adriana Hölsky werden Interludien zu Bachs „Kunst der Fuge“ uraufgeführt, der britische Jazz-Pianist Gwilym Simcock spielt eigene Werke für Klavier und Streichorchester und sein Arrangement von Debussys „Children’s Corner“, Ballettmusiken von Lully bis Strawinsky werden getanzt von Milo Pablo Momm, bei der letzten Sternstunde spielt der Pole Adam Baldych sein Jazz-Violinkonzert als Uraufführung. Gemeinsam mit der Musikhochschule präsentiert das SKO Mozarts „Don Giovanni“ im Wilhelma-Theater, und als ganz ungewöhnliches Education-Projekt wird zusammen mit jugendlichen Strafgefangenen und dem Rapper Afrob die Knast-Oper „Himmel über Adelsheim“ aufgeführt. Außer Tourneen nach Japan und China führen Konzertreisen des Stuttgarter Kammerorchesters nach Russland, Italien, Österreich, die Schweiz, die Niederlande und Belgien. Soweit die Planung der Jubiläumssaison 2020/21 – falls es die Entwicklung der Corona-Pandemie zulässt.

Hoffen auf Oktober

Ludwigsburger Forum mit Nach-Corona-Spielzeit 2020/21


Das Forum am Schlosspark in Ludwigsburg zählt zu den großen Kultur-Gastspiel-Veranstaltern in Baden Württemberg. Mit über 50 Aufführungen von Oktober bis Juli werden zehn verschiedene Abonnements in den Sparten Tanz, Theater, Konzert und Oper sowie „Forum Open“, „Forum Horizonte“ plus ein Familien- und Jugend-Abo angeboten. Internationale Ballettkompanien, preisgekrönte Schauspielensembles wie das Schauspiel Dresden mit seiner zum Berliner Theatertreffen eingeladenen Dostojewski-Bearbeitung „Erniedrigte und Beleidigte“, bekannte Solisten der Klassik- und Weltmusikszene treten hier auf, und Catherine Foster singt in einer konzertanten Aufführung aus Chemnitz die Elektra von Richard Strauss. Auch die Stuttgarter Bachakademie ist mit einer eigenen Reihe vertreten.


Seit März war das letzte Drittel der Spielzeit den Corona-Beschränkungen zum Opfer gefallen, bis Ende Juli wird es vielleicht noch einen Klavierabend mit dem russischen Pianisten Dmitry Masleev samt reduzierter Besucherzahl geben – falls die Reisebestimmungen und Hygienevorgaben das erlauben. Anders als andere Kulturveranstalter hat man beim Forum offenbar nicht in Erwägung gezogen,  nach Lockerung des Veranstaltungsverbots dem Ludwigsburger Publikum noch etwas an Kultur unter besonderen Bedingungen anzubieten. Angeblich wäre der planerische Vorlauf zu groß, die finanziellen Möglichkeiten zu gering gewesen. Es gibt zwar, gerade auch im Klassikbereich, einen derzeit unstillbaren Hunger auf Kultur, doch wird er in Ludwigsburg allein von einer Handvoll Kammermusikkonzerte der Festspiele in der letzten Juniwoche im Ordenssaal des Schlosses befriedigt werden. Der 1300 Plätze fassende Theatersaal des Forums, in dem 99 Besucher mit Abstand ohne weiteres unterzubringen wären, bleibt derweil leer. Falls im Oktober auch noch Abstandsregeln irgendwelcher Art gelten sollten, wird’s schwierig: bei weniger als 1000 Besuchern wären laut Intendant Lucas Reuter die meisten geplanten Veranstaltungen unrentabel.

ALBUM


Alina Ibragimova spielt beide Violinkonzerte Schostakowitschs


Für David Oistrach komponierte Schostakowitsch 1947/48 sein erstes Violinkonzert, doch von ihm uraufgeführt werden konnte es erst nach Stalins Tod. Diffamiert von der sowjetischen Kulturbürokratie wegen seiner „formalistischen Dekadenz“, zog der Komponist das Werk zunächst zurück, heute gilt es als eines der wichtigsten Violinkonzerte des 20. Jahrhunderts. Die vier Sätze reflektieren, typisch für Schostakowitsch, existentielle Erfahrungen des Individuums und seiner Zeit: düster und zerfasert das Nocturno, ein unheimlich grelles Scherzo mit Anspielungen auf „Boris Godunow“ und Schostakowitschs „Lady Macbeth“, die mit seiner Signatur D-Es-C-H durchdrungene Passacaglia und ein burleskes Finale, in dessen rasender Coda deren Thema noch einmal aufleuchtet.

 

Die russische Geigerin Alina Ibragimova - 2009 mit dem Brit Young Performer of the Year Award ausgezeichnet und mit einer beachtlichen Diskografie auch medial präsent – hat beide Violinkonzerte Schostakowitschs mit dem State Academic Symphony Orchestra of Russia unter der Leitung von Vladimir Jurowski aufgezeichnet. Die bei Hyperion erschienene Aufnahme ist nicht nur wegen seiner exzellenten technischen Qualität und der inspirierten Interpretation Ibragimovas bemerkenswert. Sie spielt statt der von Oistrach zusammen mit dem Komponisten 1955 überarbeiteten Fassung, sondern die Originalversion mit dem aus der langen Kadenz am Ende der Passacaglia sich entwickelnden Attacca-Beginn des Finales für Violine solo. 

Geigerisch brillant und intensiv emotional widmet sich Alina Ibragimova auch ihrer Wiedergabe des 1967 von Oistrach uraufgeführten 2. Violinkonzerts. Hier in diesem Spätwerk verdichtet Schostakowitsch die expressive Sprache des zwanzig Jahre zuvor entstandenen Hauptwerks: die Geige wird zum Individuum in einer kargen, spröden Musiklandschaft, die Jurowski und sein Moskauer Orchester doch intensiv zum Blühen bringen.

 

Eine Million stiller Revolutionen


Das World Human Forum aus Delphi bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen online zu Gast


Eigentlich sollte das „World Human Forum“ als Teil des neuen Konzepts der Ludwigsburger Schlossfestspiele im Mai an Ort und Stelle im Residenzschloss und im Laiteraturmuseum der Moderne in Marbach, dem Geburtsort Friedrich Schillers, stattfinden. Unter den Stichworten „Consciousness, Change, Connection, Creation“ waren Workshops, Referate und ein Symposium zu den unsterblichen philosophischen Fragestellungen „Wer sind wir? Wohin gehen wir? Was bewegt uns?“ geplant, doch die Corona-Pandemie brachte das Ereignis zum Lockdown. Nicht ganz: denn Jochen Sandig, der neue Intendant der Festspiele, die sich mit ihrem Label „Festival der Künste, Nachhaltigkeit und Demokratie“ ein neues Image verpasst haben, organisierte zusammen mit der griechischen Mitgründerin des World Human Forum Alexandra Mitsotaki eine digitale Online-Konferenz mit vielen „Doers“ aus aller Welt unter dem Titel „The Echo of Delphi“. Dort, im politisch-religiösen Zentrum der Antike, wurde das WHF 2016 gegründet und hält – analog zum „World Economic Forum“ in Davos – seine jährlichen Konferenzen. Heuer fand das Symposium zum ersten Mal außerhalb Griechenlands im Rahmen des Ludwigsburg Festivals statt.


Vom kleinen Festsaal des Palais Grävenitz in der Nähe des Schlosses koordinieren Sandig und Mitsotaki die Beiträge. Das technical mastering klappt leidlich und immer besser im Verlauf der drei Tage, die über 100 registrierten Teilnehmer erleben viele inspirierende Denkanstöße und illustrative Beispiele sozialer und kultureller Projekte, in denen es um gesellschaftliche Veränderung auf der Grundlage der „Sustainable Development Goals“ der Vereinten Nationen geht. „Erkenne dich selbst“ ist – angelehnt an die Inschrift am Apollotempel von Delphi – das Motto der ersten Forum-Session, die mit dem 1. Satz aus Beethovens „Schicksal“-Sinfonie und Eindrücken von „Delphi the Omphalos“ eingeleitet wird. Bewusstsein als Nährboden für Veränderung ist der Gegenstand von Positionen der britischen Forscherin und Filmemacherin („An Ecology of Mind“) Nora Bateson, des Experimentalpsychologen Roger Nelson („The Global Consciousness Project“) und des Soziologen Khalil Osiris, der als schwarzer Jugendlicher in den USA zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt wurde und heute als Direktor des Reflecting Freedom Network sich für die Freiheit von selbstverschuldeten Grenzen einsetzt.


Wie können kulturelle Werte unsere Zukunft prägen, fragt sich am zweiten Tag des World Human Forum der Brite Jeremy Lent („Resilience“) und erörtert die Vernetzung der Menschheit auf ihrer Sinnsuche und die kreativen Möglichkeiten einer offenen Demokratie. Von „1 Million stiller Revolutionen“ berichtet Bénédicte Manier im Gespräch mit der Ökofarmerin Perrine Hervé-Gruyer und dem Nachhaltigkeits-Ökonomen Thibaut Larose, der auf die „kollektive Intelligenz“ jedes Einzelnen und aller gesellschaftlichen Gruppen setzt. Eine Graswurzel-Bewegung so vieler Aktivisten, „Doers“, für die Greta Tunbergs „Fridays-for-Future“-Demos nur ein Beispiel liefert, ist hier eine Hoffnung, die sich bis zu einer zum nachhaltigen gesellschaftlichen Wandel notwendigen „kritischen Masse“ entwickeln sollte. „Education“ und das Potential alternativer Erziehungssysteme ist das Thema der dritten Conference-Session, in der die Inderin Kiran Bir Sethi von ihrer persönlichen Motivation zur Gründung des Riverside School Projects berichtet: frustriert von den Erfahrungen ihres Sohnes in der Grundschule, entwickelte die Designerin ihr eigenes Curriculum und damit die Grundlage ihrer Erziehungsphilosophie der „5E“: Empathy, Ethics, Excellence, Elevation, Evolution“. In weiteren Beiträgen von Paul Cartledge („Ancient Greece & Democracy“), Gina Belafonte, Lex Paulson („The School of Collective Intelligence“) und Stavros Yiannouka, dem Gründer der Denkfabrik WISE (World Innovative Summit for Education“) ging es um die Grundlagen und Bedingungen einer zeitgemäßen Bildungskultur.


Die Rolle von Kunst und Kreativität und schöpferischen Visionen war der Schwerpunkt der Schluss-Session, in welcher der ehemalige Designer und Produzent von Unterhaltungstechnologie James Ehrlich sein Öko-Konzept der „Regenerative Villages“ vorstellte. Eingebettet in Zuspiele vom Apollo-Tempel und Amphitheater von Delphi sowie einem virtuellen Rundgang mit Jochen Sandig durch das Ludwigsburger Schloss, wo seine künstlerische und persönliche Lebenspartnerin Sasha Waltz sich im barocken Schlosstheater schemenhaft über die Bühne bewegte, endete dieses World Human Forum der Festspiele auf einer optimistischen Note, untermalt vom C-Dur des letzten Satzes von Beethovens 5. Sinfonie, interpretiert von Teodor Currentzis und seiner Musica Aeterna und leider gräßlich zerschreddert in den digitalen Online-Schleusen. „Hope is my source of strength“ – resümierte Alexandra Mitsotaki am Ende.