Krönender Abschluss der Festspielsaison
Von Gershwin bis Ginastera: ein funkelnder Abend am Monrepos mit Fragen an die Zukunft
Mit seinem traditionellen „Monrepos Open Air“ ist das Ludwigsburg Festival vor über 7000 Zuschauern auf der Festwiese vor dem barocken Monrepos-Seeschlösschen zu Ende gegangen. Die zündende Programmauswahl mit Musik beider Amerikas wurde vom jungen Ryan McAdams für das Festspielorchester und die Zuhörer mitreißend dirigiert. Schon Leonard Bernsteins Ouvertüre zu „Candide“ war ein rasant dargebotener Auftakt, bei dem sich die erneut verbesserte Sound-Qualität der Dutzende Großboxen bewährte. Kristallklar von allen Instrumentengruppen auch danach Bernsteins „Symphonic Dances“ aus der „West Side Story“, atemberaubend der Mambo, spannungsvoll die wechselnden Stimmungen vom „Prologue“ der Sharks und Jets bis zum utopischen Finale. George Gershwins „An American in Paris“ hatte unter der Leitung von Ryan McAdams allen Schwung und Charme dieser Tondichtung au den 1920er Jahren, bei deren Wiedergabe bei manchen der älteren Zuhörer vielleicht Erinnerungen an das Filmmusical mit Gene Kelly und Leslie Caron aufkamen.
Statt Broadway und Hollywood brillierte das Orchester der Ludwigsburger Festspiele nach der Pause zunächst mit Auszügen aus George Bizets „Carmen“-Suiten, bevor Konzertmeister Gustavo Surgik mit seinem Solo in Astor Pizzollas „Libertango“ das Publikum zu trampelnder Begeisterung hinriss. Mikhael Samsonovs Cello-Version von Piazzollas „Oblivion“ gab dazu den lyrischen Kontrast, und Manuel de Fallas „Feuertanz“ bereitete schon auf das Feuerwerk-Finale vor, zu dem das Orchester vier Tänze aus Alberto Ginasteras „Estancia“ servierten. Brillante Pyrotechnik vor der Monrepos-Fassade und im wolkenlosen Nachthimmel, bewegtes Laserlicht auf den beiden das Publikum flankierenden Kastanienalleen und das glänzend und in bester Laune aufspielende Orchester der Ludwigsburger Schlossfestspiele unter der Leitung von Ryan McAdams schufen einen begeisternden Sommerabend.
Trotz einer erfolgreichen Jubiläumsaison mit mehr als 20 000 Besuchern ist der Himmel über den vor 90 Jahren gegründeten Ludwigsburger Schlossfestspielen nicht wolkenlos. Das Festival, das zugleich immer noch als „Internationale Festspiele Baden-Württemberg“ firmiert und auch an diversen Außenspielorten im Land gastiert, wird zu etwa einem Drittel seines Budgets in gleichen Teilen vom Land und von der Stadt Ludwigsburg mit öffentlichen Mitteln unterstützt. Da diese seit 2014 auf dem Level von je 800 000 Euro limitiert und durch die Kostensteigerungen in den letzten 11 Jahren die künstlerischen Planungen immer mehr beschränkt sind, wirkt sich die strukturelle Unterfinanzierung auch -auf das Programmangebot aus. Während das Festspielorchester während der Wördehoff-Intendanz bis 2018 mit dem Chefdirigenten Pietari Inkinen ein Schwerpunkt im Programm war, hat sich das Ludwigsburg Festival mit Jochen Sandig als Intendanten in den letzten Jahren im Blick auf die UNO-Agenda 2030 zu einem „Fest der Künste, Demokratie und Nachhaltigkeit“ gewandelt. Das neue Profil wurde vom vorwiegend lokalen Publikum der Festspiele zunächst nur zögerlich angenommen, wie überhaupt die Festspiele sich in den letzten 20 Jahren auf der Suche nach neuen Publikumsschichten befinden. Ob die öffentlichen Träger des Festivals mit seinen bis zu 60 Veranstaltungen im Bereich von Klassik, Tanz und Weltmusik im Juni und Juli auch in Zukunft bereit sind, die Ludwigsburger Schlossfestspiele hinreichend zu finanzieren, wird sich in absehbarer Zeit zeigen, wo auch über die Nachfolge des Intendanten ab 2025 in einer „Zukunftskommission“ beraten wird.
Melodienseligkeit über Abgründen
Cornelius Meister dirigiert die Brahms-Sinfonien I-IV mit dem Staatsorchester in der Liederhalle
Von Dietholf Zerweck
Stuttgart. Wie in den letzten Jahren waren die beiden Abschlusskonzerte der Saison mit dem Staatsorchester einem der großen Sinfoniker des 19. Jahrhunderts gewidmet. Diesmal gab Cornelius Meister mit dem Staatsorchester in der Liederhalle alle vier Sinfonien von Johannes Brahms als Zyklus: in der Sonntagsmatinee die Zweite in D-Dur und die Vierte in e-Moll, am Abend darauf die Dritte in F-Dur und die Erste in c-Moll. Dass die nicht chronologische Reihenfolge durchaus Sinn und Wirkung macht, zeigte der jubelnde Beifall am Ende der beiden sehr gut besuchten Konzerte im Beethovensaal. Die Finali der Vierten und Ersten von Johannes Brahms sind grandios gesteigert bis zum Fortissimo-Schlussakkord: was sich gerade in Brahms‘ c-Moll-Sinfonie bis zum Schluss auftürmt und aus einer Fülle von Ideen und Motiven entwickelt, ist ungeheuer.
Über Dirigenten gibt es ja den Spruch, manche hätten den Kopf in der Partitur, andere die Partitur im Kopf. Letzteres galt für Cornelius Meisters Brahms in besonderem Maße: tatsächlich dirigierte er alle vier Sinfonien auswendig, kein Partiturblättern hemmte seine agilen Hände und Arme, mit manchmal geradezu bizarren Körperaktionen stürmte er mit dem Orchester voran, um dann wieder in gespannter Ruhe zur nächsten Klang- und Motiventfaltung anzuheben. Dass Meister seinen Brahms bis ins kleinste Detail kennt und dieses Verständnis mit seinem Orchester auf großartig differenzierte Weise modellieren kann, machte diese beiden Brahms-Konzerte zum spannenden Ereignis.
Vom leuchtenden Hörner-Dreiklangmotiv des Kopfsatzes der 2. Sinfonie spannt sich ein gewaltiger Bogen zum erlösenden Hornruf am Ende der Adagio-Einleitung nach allem Widerstreit der Emotionen im Finale der 1. Sinfonie, die Brahms erst nach 20jährigem Ringen um ein eigenes Werk in der sinfonischen Nachfolge Beethovens vollendete. „Also blus das Alphorn heut“ schreibt der Komponist 1868 an Clara Schumann, und dieses Naturmotiv bekräftigt er mit einem Posaunenchoral, der nun auch das C-Dur-Hauptthema des Satzes vorbereitet, welches schon manche Zeitgenossen an Beethovens „Freude, schöner Götterfunken“ in dessen 9. Sinfonie erinnerte. Alle vier Brahms-Sinfonien im Zusammenhang und in ihren vielfältigen Bezügen so klangmächtig und in glühender Farbigkeit interpretiert zu hören, war von ganz besonderer Wirkung.
Am Sonntagmorgen bringt Meister in der D-Dur-Sinfonie die dunkel getönte Melodieseligkeit der Bratschen und Celli genauso intensiv zum Klingen wie die Wehmut und den Übermut der Mittelsätze, nach denen er den sprühenden Optimismus des „Allegro con spirito“-Finales zelebriert. Welcher Gegensatz dazu die kämpferische Heroik der e-Moll-Sinfonie, von der Brahms‘ Freund und Dirigent Hans von Bülow schon beim Proben stöhnte: „Riesig, ganz eigenartig, ganz neu, eherne Individualität. Atmet beispiellose Energie von A bis Z.“ Die Metamorphosen der F-Dur-Sinfonie, mit wuchtigen Blechbläserakkorden zu Beginn, wo im weiteren Verlauf die Themen ständig die Stimmung wechseln und erst ganz am Schluss dieses Werks, nach allen wilden Emotionen, das Finale verklärt in leisen Violinen verklingt, werden vom Staatsorchester mit exquisiten Holzbläser-Soli gestaltet. Und nach den unerbittlichen 52 Paukenschlägen zum Auftakt der c-Moll-Sinfonie ist deren furiose Wiedergabe der absolute Höhepunkt des meisterlichen Brahms-Zyklus.
Aus geistiger Klarheit vollendet gestaltet
Mitsuko Uchida spielt Beethovens letzte Klaviersonaten in der Stuttgarter Liederhalle
Wie eine Hohepriesterin ihrer Kunst steht Mitsuko Uchida am Ende vor dem Konzertflügel, aufrecht und unbeweglich, mit der durchgeistigten Aura einer unvergleichlichen Musikerin. Gerade hat sie die letzte Variation von Beethovens „Arietta“ seiner c-Moll-Klaviersonate op. 111 mit ihren sphärischen Zweiunddreißigsteltriolen in hymnische Höhen geführt und im Echo der Anfangstakte leise verklingen lassen, lange hält sie die Hände noch über den Tasten, kein Muckser regt sich im Saal. Erst als sich die 74jährige erhebt, löst sich die Spannung, der Beifall bricht los, die Bravorufe häufen sich, mit einer tiefen, zeremoniellen Verbeugung dankt sie ihrem Publikum. Es ist einer jener seltenen Momente am Ende eines Konzerts, wo sich Zuhörer und Interpretin im Innersten der Musik begegnet sein könnten: denn die Wiedergabe der drei letzten Klaviersonaten Beethovens durch diese wunderbare Pianistin war ein zutiefst berührendes Ereignis.
Erst im letzten Jahr hat Mitsuko Uchida mit ihrer Einspielung der „Diabelli-Variationen“ gezeigt, wie technisch souverän und gestalterisch überzeugend sie sich mit diesem finalen Klavierwerk Beethovens auseinandersetzgesetzt hat. Die Wiedergabe seiner Opera 109 bis 111 im Konzertsaal an einem Abend ist da natürlich noch eine ganz andere Herausforderung. Uchida begann ihre Serie von fünf Konzerten mit diesen Sonaten, welche sie auch in die Hamburger Elbphilharmonie und den Wiener Musikvereinssaal führt, in Stuttgart. Beethoven hat sie vor 200 Jahren als Zyklus komponiert, und nicht nur die beiden Variationensätze von Opus 109 und 111 weisen auf innere Beziehungen, die Uchida an diesem Abend offenlegt. Volltönend klingt der Vivace-Beginn der E-Dur-Sonate, mit großer Leuchtkraft tönt das Adagio espressivo, die stürmischen Intervallsprünge und Synkopen des Mittelsatzes sind in Uchidas Wiedergabe gebändigt. „Es ist der Geist, der edlere und bessere Menschen auf diesem Erdenrund zusammenhält“, hat Beethoven in seiner Widmung der 19jährigen Maximiliane Brentano geschrieben, und im Andante mit seinen sechs kunstvollen Variationen kommt dieser Gedanke großartig zum Ausdruck. Mitsuko Uchida folgt dem Wachstum und den Verwandlungen des liedhaften Themas mit großer Sorgfalt bis in subtile Verästelungen, auch im Diskant klingt der Flügel nie grell oder stumpf, mit feinst dosiertem Pedal erzeugt die Pianistin funkelnde Klangwirkungen.
Als persönliches Bekenntnis, zwischen Schmerz-Lamento und Genesungs-Fuge, hat Beethoven seine As-Dur-Sonate konzipiert. „Perdendo le forze“ (ermattend) überschreibt er den Klagegesang des Arioso, „poi a poi di nuovo vivente“ (nach und nach wieder auflebend) die Fuge des Finales, und was alles an widerstreitenden Emotionen in diesem Schlusssatz und der ganzen Sonate Opus 110 steckt, wird von Mitsuko Uchida in bildhafter, kontrastreicher Intensität dargeboten. Wie sich aus den dunklen, verschwimmenden Harmonien des Arioso die zum Licht strebende Klarheit der Fuge erhebt, ist meisterhaft gestaltet. Noch tiefgründiger ist dann nach der Pause die Interpretation von Beethovens Opus 111. Mit dem Septim- und Oktavsprung der Basshand in den Abgrund der Todesahnung beginnt eine spannungsgeladene Auseinandersetzung zwischen Kampf und Verklärung, die von Uchida nie in Härte forciert, sondern in feinsten klanglichen Abstufungen gestaltet wird. Den leidenschaftlichen Allegro-Satz entfaltet sie ohne Brüche, alles ist organisch aufeinander bezogen, die Kontraste zwischen innerer Erregung und stoischer Ruhe sind mitreißend ausgeführt. Und Beethovens „Arietta“ mit ihren sich ins Visionäre, Transzendente steigernden Variationen ist ein Wunder an geistiger Klarheit und Durchdringung.
17. April 2023
Highlights beim diesjährigen ECLAT-Festival im Stuttgarter Theaterhaus
Wie wirkt Sprache in der Neuen Musik, ohne dass sie bloß instrumental eingesetzt wird und dadurch ihren semantischen Zusammenhang verliert? Das ist eine Frage, die beim diesjährigen ECLAT-Festival vom 1. bis 5. Februar im Theaterhaus bei „Poetry Affairs“ verhandelt wurde: Jeweils zu Beginn der einzelnen Veranstaltungstage widmeten sich eine Dichterin, ein Komponist oder eine Komponistin und Mitglieder der Neuen Vocalsolisten in Performances diesem Thema. Überhaupt zog sich die Auseinandersetzung im Verhältnis von Sprache und Musik wie ein roter Faden durch das Festival: Mit der Uraufführung von Samir Odeh-Tamimis „Philoktet“ war dieses Musiktheater mit den Neuen Vocalsolisten und dem Zafraan Ensemble ein Hauptprojekt.
Lollipops und hartgekochte Variationen
Das Eröffnungskonzert war kompositorisch wie interpretatorisch höchst abwechslungsreich und von beeindruckender Qualität. Der Auftakt mit Milica Djordjevis „Transfixed I-III“ war schockierend direkt: dem Titel entsprechend („vor Schreck erstarrt oder gebannt vor Erstaunen“) reißt der Beginn die Zuhörer gleich in einen brodelnden Abgrund, in eine Art basslastiges schwarzes Rauschen, aus der sich Trompete und Klarinette wiehernd befreien. Die 1984 in Belgrad geborene Komponistin setzt dann dieser geballten Aggression im Mittelteil ganz feine Streichquintett-Klänge entgegen, deren Faszination löst sich wiederum am Schluss in wilden Geräuschattacken auf. Drei Aggregatzustände, dreimal „transfixed“.
Völlig multidimensional und dabei ungeheuer witzig ist Alex Paxtons „iLolli-Pop for ensemble and improvising musician“: der Komponist selber bläst, singt, röchelt, schluchzt, jodelt in die Posaune, und seine irrwitzigen Improvisationen werden getragen von einem kaleidoskopartig sich verändernden Orchesterpart, der E- und U-Musik unterschiedlichster Herkunft virtuos durcheinander mixt. Das schmeckt so süß und manchmal auch klebrig wie ein Lollipop und wird fantastisch dirigiert von Enno Poppe, selbst ein viel beachteter Komponist Neuer Musik, der sich hier vor dem grandiosen Ensemble Modern in alle melodischen und dynamischen Nuancen biegt und verrenkt. Alex Paxton, der Posaunist, Jazzmusiker und stilistischer Grenzgänger aus Manchester mit typisch britischem Humor, improvisiert seinen Part bravourös, und wenn Paxton plötzlich wie Lous Armstrong klingt oder aus den Streichern es Frank-Sinatra-like schmalzt, ist Schmunzeln angesagt. Sein Stück klingt, wie er es charakterisiert: „Wie minimal aber viel mehr Noten, wie Videospiele aber mit mehr Gesang, wie Jazz aber viel schwuler, wie alte Musik aber aktueller, wie lecker-süß aber mehr klebend …“ Arnulf Hermanns „Hard Boiled Variations – 15 ½ Cycles” ist dazu das bis ins kleinste Detail kalkulierte intellektuelle Gegenstück. Es beginnt mit wie Tropfen ploppenden Tönen, es lädt sich strukturell auf bis zu einer Schlagwerkexplosion, fünfzehnmal wiederholt sich der gleiche musikalische Ablauf in immer beschleunigterem Tempo, der erste Zyklus dauert fünf Minuten, der letzte gerade noch drei Sekunden. Man könnte das als Zurasen auf eine Katastrophe deuten, doch dazu ist das Stück fast zu spielerisch tanzartig. Man schielt immer wieder zum Perkussionisten und seinem Schlagstock, bis er mit dem kleinen Becken-Tusch den nächsten Zyklus abbricht, und wieder beginnen die Töne zu ploppen. Und nach dem letzten Tusch zerstäubt das Material in leise verklingenden Paukentönen. Wer nach diesem grandiosen Eröffnungskonzert noch mehr vom Ensemble Modern hören und sehen wollte, der war zu später Stunde bei Huihui Chengs Raum-Performance „Imaginary Strings“ richtig: wie an unsichtbaren Fäden gezogen bewegen sich sieben Bläser und drei Streicher auf bestimmten Bahnen, um sie herum werden perkussive Impulse gesetzt: „Am stillen Mittelpunkt der sich drehenden Welt / weder Körper noch entkörpert / weder weg noch her“ zitiert die chinesische Komponistin T.S.Eliot.
Aus der Aura der Sprache
Musiktheater-Aufführungen im Bereich der Neuen Musik, sofern sie den gewohnten Spielraum von Sängern und Orchester verlassen, sind eine heikle Sache. Auch beim Stuttgarter Eclat-Festival gibt es jedes Jahr ambitionierte Versuche dazu, doch oft ist die szenische Umsetzung wenig befriedigend, da allein schon die musikalische Wiedergabe größte Anstrengungen erfordert. Zwei Spezialensembles für Experimente jeglicher Art zwischen Performance und Musiktheater sind die Neuen Vocalsolisten und das Berliner Zafraan-Ensemble, die nun zusammen mit dem Countertenor Daniel Gloger das Stück „Philoktet“ von Samir Odeh-Tamimi bei Eclat zur Uraufführung brachten: durchaus beeindruckend in seiner aufs Notwendigste reduzierten theatralischen Aktion, und mit einem überragenden Singdarsteller in der Titelrolle. Philoktet, ein Held auf dem Weg in den Trojanischen Krieg, der von Odysseus wegen einer Verletzung ausgesetzt wird, lebt seit zehn Jahren als Einsiedler auf der Insel Lemnos. Vom Versuch der Griechen, ihn wegen seiner Wunderwaffe, dem Bogen des Herakles, in den Krieg zurückzuholen, handelt das Stück, welches der Komponist auf der Basis des antiken Sophokles-Dramas konzipiert hat. Zu Beginn der einstündigen Aufführung ist es zunächst allein die Sprachmelodie des Altgriechischen, welche zusammen mit perkussiver Begleitung die Szene dominiert. Odysseus und sein Gefährte Neoptolemos sind auf die Insel zurückgekehrt, ihr Dialog mit Philoktet – die Sänger sind mit tragbaren Tablets ausgerüstet, von denen sie ihre Texte skandieren – zeigt sogleich die Spannungen zwischen den Figuren, in die sich auch der Chor wie im antiken Drama kommentierend einschaltet. Johanna Vargas, Susanne Leitz-Lorey und Truike von der Poel geben ihm mit erhobenen Händen Stimmgewalt, Guillermo Anzorena als „Eindringling“ kommt hinzu. Doch außer dem rhythmisierten Sprech-Singsang entsteht bald eine komplexere musiktheatralische Ebene zwischen Andreas Fischer (Odysseus), dem eloquenten Martin Nagy (Neoptolemos), der Philoktet zur Rückkehr als Krieger bewegen soll, und einem widerständigen, mit seinem Schicksal („einsam, verlassen, freundlos, misshandelt“) hadernden Daniel Gloger. Die Erregungszustände Philoktets werden nun immer stärker auch von den Musikern des Zafraan-Ensembles, das Teil der Bühne ist, aufgegriffen und von der Elektronik unterstützt. Besonders Miguel Perez Inesta, der mit seiner Kontrabassklarinette auch ins Bühnengeschehen eingreift, Clemens Hund-Göschel am Klavier und Daniel Eichholz am Schlagzeug produzieren archaische Klänge, welche die von der antiken Tragödie inspirierte Szene (Rosabel Huguet in Co-Regie mit Odeh-Tamimi) unterstützen. Während die zwielichtige Figur des Odysseus auch sängerisch im Hintergrund bleibt, sind die Partien von Neoptolemos und Philoktet virtuos ausgebaut, und Daniel Gloger kann alle Facetten seines ausdrucksstarken Countertenors einsetzen. Vor der Finalszene irren die Sänger und Musiker orientierungslos über die Bühne, anscheinend ein Bild für den unlösbaren Konflikt zwischen Krieg und Frieden. Als Philoktet die Waffe auf Odysseus anlegt, ersticht ihn sein Gefährte Neoptolemos. Im Sophokles-Drama dagegen hatte ihn Herakles als Deus ex machina dazu gebracht, in den Kampf um Troja zurückzukehren.
Seit bald 20 Jahren ist der SWR mit seinen Klangkörpern Kooperationspartner von ECLAT. Das SWR Symphonieorchester spielte am Freitag unter der Leitung von Titus Engel Uraufführungen von Stefan Keller („Tanz“), Zeynep Gedizlioglu („Lauf“) und Bernard Ganders Konzert für Klavier und Orchester mit dem Pianisten Joonas Ahonen. Am Tag darauf brachte das SWR Vokalensemble drei Werke zur Aufführung, die sich auf verschiedene Weise mit Sprache auseinandersetzten. Der Italiener Valerio Sannicandro zitierte in seiner „Visio-Fictio“ Dante, der Spanier Alberto Posadas verwendet in „Ubi Sunt“ Texte von der Antike bis zum Mittelalter, der Grieche Georges Aperghis dagegen collagierte in seinem Stück Fetzen der Gegenwartssprache bis zur Internet Hate-Speech. Dazwischen spielte das Trio Catch Kammermusik für Klarinette, Violoncello und Klavier. Neben dem Preisträgerkonzert zum Kompositionswettbewerb der Landeshauptstadt mit dem Aleph Gitarrenquartett und dem Ensemble Mosaik am Schlusstag gab es während des fünftägigen Festivals experimentelle Formate und Performances mit Titeln wie „Ready for Ecstasy“, „Unsupervised Sounds“ vom Ensemble Garage und mit Künstlicher Intelligenz, „Alter Ego“ mit Klangregie vom Pariser IRCAM-Institut und „Dream Machine“ von und mit der Schauspielerin Anke Retzlaff.
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Ein Funken Hoffnung
Teodor Currentzis dirigiert Schostakowitsch, Vilde Frang spielt Alban Berg
Persönliche und gesellschaftliche Tragik verbinden die beiden Werke, die beim jüngsten Konzert des SWR Symphonieorchesters in der Liederhalle zur Aufführung kamen. Das Programm, mit dem das Orchester unter der Leitung seines Chefdirigenten Teodor Currentzis auch in der Berliner Philharmonie und im Wiener Konzerthaus gastiert, spannt den Bogen von Alban Bergs 1935 entstandenem, „Dem Andenken eines Engels“ gewidmeten Violinkonzert zu einer der Kriegssinfonien Dmitri Schostakowitschs, die der russische Komponist 1943 angesichts der grauenhaften Verwüstungen seines Landes durch Nazi-Deutschland komponierte. Doch wie Berg sich in seinem atonal orchestrierten Konzert nicht nur auf den frühen Tod der jungen Manon - Tochter seines Freundespaars Alma Mahler und Walter Gropius - bezieht, sondern mit expressiver Musiksprache „eine Art Sinnbild des Lebens“ erschafft, so schildert Schostakowitsch mit ungeheurer Ausdrucksintensität auch das individuelle Leid, die Trauer und den Selbstbehauptungswillen der Menschen in der stalinistischen Diktatur. Die erschütternde Aussagekraft der 8. Sinfonie wirkt zugleich ungeheuer aktuell: die grellen, brutalistischen Exzesse der mittleren Sätze dieser Sinfonie schockieren wie die heutigen Bilder der Zerstörung im Ukraine-Krieg.
Vierstimmige Intervalle der Solovioline, aufwärts strebend und abwärts fallend, stehen am Anfang von Alban Bergs Violinkonzert: die norwegische Geigerin Vilde Frang spielt sie als sanfte Einstimmung auf ein melodisch ineinander verschlungenes Allegretto, in dem Berg „Wesenszüge des jungen Mädchens in musikalische Charaktere übersetzen“ will. Eindrucksvoll, wie Currentzis mit vielen solistischen Stimmen und leuchtenden Orchesterfarben dieses klingende Psychogramm ausleuchtet, und wie Frang auf ihrer Guarneri Töne von herzzerreißender Intensität gelingen. Kunstvoll variiert Berg ein Zitat des Kärntner Volkslieds „Ein Vogerl auf’m Zwetschengenbaum“ in den Holzbläsern, vogelleichte Flügelschläge der Solovioline prallen auf grobe Tubafanfaren, schon zum Ende des ersten Satzes kündigt sich die Katastrophe an, die mit einer Schlagzeugsalve und Großer Regimentstrommel im Allegro einsetzt. Doppelgriffe artikulieren Schmerzschreie, Flageoletts drohen zu ersticken, Vilde Frangs Interpretation ist hoch expressiv und zugleich von natürlicher Emotionalität. Das groß besetzte Orchester steigert den Lebenskampf, zum Beispiel durch unerbittliche Bläser-Staccati, bis zum Exzess - und mit dem nun einsetzenden Zitat des Bach-Chorals aus der Kantate „O Ewigkeit, du Donnerwort“ beginnt das Requiem. Starker Beifall im fast ausverkauften Beethovensaal schon zur Pause.
Mit einem von den Kontrabässen, Celli und Bratschen angestimmten Klagegesang beginnt Schostakowitschs 8. Sinfonie in c-Moll. Mit einer fünffachen, ohrenbetäubend explosiven Schlagwerk-Detonation erreicht dieser Satz seinen Höhepunkt, mit einer einsamen Trompete über den sich pianissimo aushauchenden Streichern endet dieser ungeheure, fast halbstündige Kopfsatz. Nach der marschartigen Groteske des zweiten und den wie Raketen pfeifenden, gellenden Bläserattacken im gnadenlosen Perpetuum mobile des dritten Satzes wird In der Largo-Passacaglia der Trauergesang des Anfangs wieder aufgenommen. Mit unendlicher Langsamkeit und großartiger Differenzierung der einzelnen Orchesterstimmen modelliert Currentzis diese Bewegung, an deren Ende sich die depressive Stimmung mit dem spielerischen Einsatz des Solo-Fagotts plötzlich aufzuhellen scheint. Wie Pflanzen im Frühling aus der Erde sprießen, so entfalten sich melodische Motive. doch sie werden erneut durch das Trommelfeuer und die geballte Wucht dissonanter Tutti zerschmettert. Und doch: in den letzten Minuten dieser gewaltigen Sinfonie scheint ein Funken Hoffnung aufzukeimen. Aus c-Moll wächst ein zartes, flötenüberglänztes C-Dur und verklingt in Sekundenschritten. Teodor Currentzis und das bravourös aufspielende SWR Symphonieorchester gestalteten dieses monumentale 70-Minuten-Opus überwältigend.
21. Januar 2023
Mitreißende musikdramatische Kontraste
Christian Tetzlaff, Edward Gardner und das London Philharmonic Orchestra bei den Meisterkonzerten in der Stuttgarter Liederhalle
Viele junge Gesichter im London Philharmonic Orchestra, das dieses Jahr sein 90jähriges Jubiläum feiert, doch was Klangkultur angeht, brauchte sich das Orchester unter seinem neuen Chefdirigenten Edward Gardner beim Meisterkonzerte-Gastspiel im Beethovensaal nicht zu verstecken. Dass der 48jährige Brite ein Maestro mit gutem Gespür für die dramatischen Aspekte von Musik ist, zeigte schon der Auftakt mit Mendelssohns Ouvertüre zu Shakespeares „Ein Sommernachtstraum“. Die ersten thematischen Holzbläser-Akkorde bietet er mit einer Kunstpause vor dem vierten: das schärft die Spannung genauso wie das starke Ritardando nach allem Elfenspuk, den Gardner im feinen Kontrast zum lärmigen Handwerkermotiv inszeniert. Die Flöten jubilieren, die Fagotte schnarren, die Streicher schwelgen: der Dirigent, der acht Jahre lang Music Director der English National Opera war und enge Beziehungen zur New Yorker Met pflegt, interpretiert die Ouvertüre als echte Schauspielmusik.
Auch Tschaikowskys Violinkonzert hat seine theatralischen Momente, und die bringt der Solist Christian Tetzlaff allein schon durch seine Körpersprache zur Geltung. Hin- und herschwingend im Rhythmus der Musik, spielt er die technischen Raffinessen des Allegro brillant aus und steigert die Stretta zum Satzschluss effektvoll: Spontanbeifall vor der Canzonetta - was beim konservativen Publikum der Stuttgarter Meisterkonzerte durchaus eine Seltenheit ist. Im langsamen, lyrischen Satz werden große Melodiebögen gespannt, auch die vorzüglichen Holzbläser des LPO sind beim Übergang zum Finalsatz in ihrer Klangrede bravourös. Was Christian Tetzlaff in der Canzonetta an Emotionalität in seinen Geigenton legt, übertrifft er mit einem blitzenden Virtuoso-Feuerwerk in diesem „Allegro vivacissimo“, dessen rasende Lebendigkeit immer wieder von Momenten von Ausdruckstiefe unterbrochen wird. Die Tempobeschleunigung am Schluss wird von Gardner noch zusätzlich angeheizt: „Kick and Rush“ auf britische Art. Ein kostbarer Ruhemoment danach Tetzlaffs Zugabe: seine schlichte Deutung des Largo aus Johann Sebastian Bachs 3. Violinsonate ist makellos.
Großartiger Höhepunkt des Konzerts ist dann die Wiedergabe von Béla Bartóks „Konzert für Orchester“ durch ein in allen Instrumentalgruppen phänomenales London Philharmonic. Das fünfsätzige sinfonische Werk, 1943 vom Boston-Symphony-Dirigenten Serge Koussevitzky zum Andenken an seine verstorbene Frau Natalia für den leukämiekranken Bartók im amerikanischen Exil in Auftrag gegeben, ist eine spektakuläre Auseinandersetzung zwischen Düsternis und Licht, Verzweiflung und Triumph des Lebens. Der Aufschrei der Geigen, die klagende Oboe im Kopfsatz, der tänzerische Humor der Bläserpaare von Fagott, Klarinette, Flöte, gestopften Trompeten im Scherzo, die schmerzvoll sich aufbäumende „Elegia“, das mit ungarischer und rumänischer Folklore pulsierende Intermezzo, schließlich der Bonanza-Trubel und die dem Leiden abgerungene Euphorie des Presto-Finales: Edward Gardner animierte sein Orchester zu einem Musikdrama in fünf Akten; die Zugabe des Notturno aus Edvard Griegs „Lyrischer Suite“ war die klangsatte Visitenkarte des London Philharmonic Orchestra.
Politische und gesellschaftliche Positionen der Neuen Musik
Die Uraufführungen bei den Donaueschinger Musiktagen nehmen vielfältig Stellung
Nach ihrem 100-Jahre-Jubiläum 2001 stand heuer bei den Donaueschinger Musiktagen das Vokale im Mittelpunkt. 27 Uraufführungen gab es im Programm der neun Konzerte des weltweit bedeutendsten Festivals für Neue Musik, und schon das Auftaktkonzert am Freitag hatte mit den Neuen Vocalsolisten ein Ensemble, welches die Möglichkeiten der menschlichen Stimme auf vielfältigste Weise zum Ausdruck bringt. Nikolaus Brass reagiert in seinem Stück „Heliotrop – Sequenzen für Bassklarinette und Vokalsextett“ auf den 24. Februar dieses Jahres, den Überfall Russlands auf die Ukraine. Zwischen Erschöpfung, Luftholen, Stillehalten und erregtem Aufbegehren mäandert das Stück, das einen lyrischen Text des Komponisten verarbeitet, mit gegensätzlichen Metaphern wie „Wintersonne“ und „Asche der Nacht“. Neben Vokalisen wird der Körper der Sängerinnen und Sänger mit Backenklatschen, Lippenklappern, Brusttrommeln akustisch eingesetzt, und der Instrumentalist Gareth Davis kommentiert die Aktionen mit abgrundtiefen Kantilenen.
Wesentlich ausdrucksvoller waren Iris ter Schiphorsts Miniaturen für Bassstimme, Bassklarinette und Elektronik, in denen sich Andreas Fischer und Davis mit mikrotonalen Reibungen den kurzen Statements einer Parkinson-Patientin konfrontierten. Unterbrochen von der ohrenbetäubenden, stampfenden Motorik des Zuspiel-Tonbands wurde hier die Situation der Krankheit zwischen rhythmisch strukturierter Verkrampfung und instrumentalen Klangflächen auf den Punkt gebracht. Auch „In Darkness“ von Evis Sammoutis beschäftigt sich in seinem Stück für Vokalquintett und Bassklarinette mit Parkinson: ein Renaissance-Madrigal von John Dowland dient als Vorlage, zum dichten Ensembleklang der Neuen Vocalsolisten und zu den komplementären Einwürfen der Klarinette werden himmelblaue Klangschläuche gewirbelt, die einen befreienden Kontrast zum traurig ernsten textmusikalischen Ausdruck dieses kompositorisch eingängigen Stücks liefern, das in reinen diatonischen Akkorden verlöscht.
Eine Vokalperformance der ganz anderen Art zeigte die polnische Komponistin Agata Zubel im Eröffnungskonzert als Hologramm-Solistin in ihrem Stück „Outside the Realm of Time“, in dem sie sich mit dem flüchtigen Eindruck von Erinnerungsbildern auseinandersetzt. Schick in verschiedenen Kostümen und halbwegs dreidimensional auf einem Stoff-Screen über dem Orchester eingeblendet, rappte Zubel ihre „zeitenthobene“ Message zu den dicht gewobenen Klangteppichen des SWR Symphonieorchesters. Das war, trotz seinem Event-Charakter, wenigstens etwas origineller als Martin Schüttlers 80-teiliges, in Klangschnipsel zerlegtes Orchester-plus-Elektronik-Stück, in dem auch die Beatles mit Sgt. Pepper und Hubschrauberknattern zitiert wurden. Thomas Meadowcrofts schmusige Reverenz an den.Sound der SWD-Bigband vor Jahrzehnten samt Mantovani-Geigen und dreitöniger Tuba-Floskel degradierte das Orchester und seinen Dirigenten Pascal Rophé zum Pop-Statisten. Für Clara Iannottas Rage-Posaunen-Konzert waren Komponistin und Elektroniker wegen Corona ausgefallen, so konnten die beiden Solisten nur alleine auf der Bühne ihre Verfremdungskünste vorführen. Apropos Corona: von den fast Tausend Zuhörern im Saal der Baar-Sporthalle hatten nur die Wenigsten eine Maske auf.
Spezielle Neue-Musik-Ensembles bilden die Crème-de-la-crème im Programm der Donaueschinger Musiktage. Am zweiten Festival-Tag waren gleich drei hochinteressante Gruppen zu hören; zunächst brachte das Stuttgarter Ensemble Ascolta die „Children’s Songs“des Dänen Christian Winther Christensen mit unendlicher Zartheit zu Gehör: wie viel politischer im Vergleich zu dem Brass-Stück am Abend zuvor diese wunderbare musikalische Hommage an unverdorbene Kindheit in unseren Zeiten ist, wurde unmittelbar erfahrbar. Nach esoterischem Sopran-Gedöns war am Nachmittag Nigel Osbornes „A Short History of Polish Philosophy“ mit dem polnischen Ensemble Kwadrofonik der absolute Hit: ein Paar Pianisten, ein Paar Schlagzeuger – was die alles multiinstrumental und unterstützt von effektvoll eingesetzter Elektronik an ihrem bühnenfüllenden Arsenal praktizierten, war hinreißend. Und beim Talea-Ensemble aus New York gab es einen ähnlichen Aha-Effekt: nachdem sie mit Alexander Goehrs seriell inspirierter langweiliger Klarheit, Mauro Lanzas chinoiser Spieldosen-Klingelei und Joanna Woznys klangwuchtigen Entflechtungen ihre kunstvolle Kompetenz demonstriert hatten, war der aggressiv dröhnende „Hyper-Dub“ von Iris ter Schiphorst mit dem formidablen Dirk von Lowtzow als Sprecher und dem Einsatz des legendären MS-20-Synthesizers ein furios rebellischer Rückgriff auf die Berliner Apo-Szene der 1980er Jahre.
Rasen in den Untergang
Es geschieht immer mal wieder, dass bei den Donaueschinger Musiktagen eine Uraufführung weit über das experimentelle Spiel mit dem grenzenlosen Arsenal der Möglichkeiten hinaus, die bei diesem Festival der Neuen Musik an der Tagesordnung sind, unmittelbar ins Zentrum der Ereignisse trifft. Am Schlusstag des Festivals war es das Stück des 69jährigen österreichischen Komponisten Georg Friedrich Haas, welches durch seine mit radikaler Konsequenz ausgeführte Idee einer rasenden Beschleunigung aller Elemente ungeheure Spannung erzeugte und die inhaltliche Bedeutung dieser Komposition packend anschaulich machte. „Weiter und weiter und weiter“ – so der Titel des Stücks – dreht sich die Spirale zum Untergang, unzählige Male und in immer schnelleren Abständen rast das musikalische Material auf die Katastrophen zu, die sich in donnernden Gewaltausbrüchen entladen, doch jedes Mal ist diese Abfolge der scheinbar unvermeidlichen Raserei anders organisiert. Bewundernswert neben der unmittelbar faszinierenden Wirkung ist die komplexe Struktur dieses Meisterwerks, welches vom Ensemble Modern, einem der internationalen Spitzenensembles der Neuen Musik, hinreißend dargeboten wurde.
Georg Friedrich Haas erzählt im Programmbuch davon, wie er vor einigen Jahren bei der Niederschrift seiner Memoiren von der Erinnerung an die Qualen von Gewalt und Missbrauch im Altnazi-Elternhaus eingeholt wurde. Auch während der Arbeit an seinem neuen Werk für Donaueschingen: „Meine Vergangenheit wurde mir ständig präsent.“ Doch jenseits des biografischen Aspekts ist dieses Stück mit seinen in unzähligen Klangkatastrophen kulminierenden Beschleunigungen wie ein musikalisches Abbild unserer Gegenwart. Was zunächst in einem lähmenden Legato beginnt, reißt den Zuhörer immer weiter in den Mahlstrom der Ereignisse, die mit raketenartiger Geschwindigkeit auf ihn zurasen. Dabei scheint es, dass dem Dirigenten Vimbayi Kaziboni im nächsten Augenblick die Arme wegfliegen müssten, so wahnsinnig schnell sind seine Taktschläge. Aus der tödlichen Spirale auszusteigen scheint auch unmöglich. Doch Georg Friedrich Haas zeigt, nachdem er am Anfang einen Akkord aus Beethovens 9. Sinfonie zitiert hat, einen überraschenden Ausweg: wie in Haydns „Abschiedssinfonie“ verlässt am Ende ein Musiker nach dem andern die Bühne, der Kontrabassist zuerst, am Schluss sitzt nur noch ein einsamer Akkordeonspieler auf dem Podium, auch er verschwindet: „Wir haben immer die Möglichkeit, aufzustehen und wegzugehen“, so Haas.
Reizvolle Kontraste bot das Abschlusskonzert des Festivals mit dem SWR Symphonieorchester unter der Leitung von Bas Wiegers. Bei Malika Kishinos instrumental mit Raffinesse ausgemaltem „Wolkenatlas“ konnte man sich das Entstehen, Mutieren und Zerfasern solcher Wolkengebilde anschaulich vorstellen. Arnulf Herrmanns „Kinderlied – Vier Strophen für Orchester und Schallplatte“ dekonstruierte und zertrümmerte Brahms‘ aus über den Zuhörern kreisenden Lautsprechermembranen tönendes Volkslied mit harten Schlägen, und in Peter Ruzickas „Eingedunkelt“ für Violine, Kammerchor und Orchester konnte sich die Solistin Carolin Widmann gegen die brutale Übermacht des Orchesterapparats als menschliche Stimme behauten, mit dem klagenden SWR Vokalensemble als Echokammer. Maximalen Aufwand bei geringem künstlerischen Ertrag demonstrierte Lula Romeros „Parallax“ mit drei in der Baar-Sporthalle rund um das Publikum herum asymmetrisch postierten Orchestergruppen.
17. Oktober 2022
Gespür für klangliche Nuancen
Sarah Kims grandioses Konzert beim Internationalen Orgelsommer in der Stiftskirche
Eine der interessantesten Virtuosinnen beim diesjährigen Internationalen Orgelsommer in der Stiftskirche ist die in Korea geborene Australierin Sarah Kim. Schon mit elf Jahren begann sie ihre Orgelausbildung in Sydney, bei Olivier Latry und Jean Guillou vollendete sie ihre Studien in Paris, wo sie am Oratoire du Louvre als Organistin tätig ist. Ihr Konzert an der Mühleisenorgel spannte einen Bogen vom Barock bis zur klassischen Moderne, wobei die farbige und sehr variable Registrierung der gewählten Stücke wesentlich zum begeisternden Eindruck des Abends beitrug.
Bei Dietrich Buxtehudes Toccata F-Dur zeigt Sarah Kim schon bei den Stimmungs- und Tempowechseln ein großartiges Gespür für klangliche Valeurs. Glitzernde figurale Improvisationen kontrastieren mit streng polyphonen Fugenteilen, das ganze Stück pulsiert in strahlender Lebendigkeit. Georg Friedrich Händels Orgelkonzert d-Moll interpretiert Kim in der Solo-Transkription ihres Lehrers Jean Guillou mit einem dunkel getönten Adagio und einem im Kontrast dazu filigran artikulierten, mit reizvollen Echowirkungen swingenden Allegro. Die Überleitung zum rhythmisch akzentzierten Finale mit kräftigen Pedal-Stops gestaltet sie als meditatives Intermezzo, und insgesamt beeindruckt die klangliche Vielschichtigkeit dieser Darbietung.
Mit Herbert Howells‘ 1940 entstandenen Komposition „Master Tallis’s Testament“ beginnt Sarah Kim die großartige Registervielfalt der Mühleisenorgel in der Stiftskirche ins Spiel zu bringen. Aus der Keimzelle des zart anklingenden, ein Motiv des englischen Renaissancekomponisten zitierenden Anfangsthemas wächst mit jeder Variation die Komplexität und Dynamik der Musik, die bei Maurice Duruflés „Prélude, Adagio et Choral varié“ über den Hymnus „Veni creator spiritus“ in Sarah Kims Wiedergabe einfach überwältigt. Besonders bei diesem Werk ist es für die Besucher in der Stiftskirche interessant auf dem Video-Screen zu beobachten, wie virtuos die Organistin die Manuale wechselt und wie leichtfüßig sie im Pedalspiel agiert. Auch im musikalischen Gehalt ist Duruflés 1931 komponiertes Stück im Stil der französischen Kathedralmusik von Charles-Marie Vidor und Louis Vierne der Höhepunkt des Konzerts: in den funkelnden Arpeggien und den brausenden Klangwirbeln der Orgel glaubt man die spirituelle Kraft des Heiligen Geistes zu spüre; diese Musik strebt himmelwärts.
Sechs „Rumänische Volkstänze“ von Béla Bartók hat Sarah Kim selbst für Orgel bearbeitet, jedes dieser Stücke hat in ihrer Interpretation seine eigenen Klangfarben und rhythmisch tänzerischen Kontraste. Auch die darin vorhandene Melancholie kommt dabei wunderbar zum Ausdruck. Sergej Prokofjews berühmte Klavier-„Toccata“ in der Transkription von Jean Guillou dagegen ist ein pures Virtuosenstück – es könnte auch als Soundtrack zu einem Disney-Animationsfilm taugen. Doch auch das brachte Sarah Kim höchst effektvoll zur Aufführung. Danach: Stehende Ovationen in der Stiftskirche.
7. August 2022
Sternstunde des Liedgesangs
Julien Prégardien und Kristian Bezuidenhout mit Schuberts „Die Schöne Müllerin“ beim Musikfest
Am vorerst heißesten Tag des Jahres zu nachmittäglicher Stunde im Weißen Saal des Neuen Schlosses: erstaunlich viele Musikliebhaber hatten sich zum Liedkonzert mit Schuberts „Schöner Müllerin“ eingefunden und ließen sich auch nicht durch die Abschaltung der Klimaanlage die Freude an diesem künstlerischen Ereignis verderben. Da Kristian Bezuidenhout den Tenor Julien Prégardien auf einem nachgebauten Hammerflügel aus der Zeit des Schubertschen Liederzyklus in Wien (Conrad Graf, 1826) begleitete, hätte eine ähnlich kalte Klimatisierung wie am Vorabend beim Eröffnungskonzert in der Liederhalle dem Instrument sicher nicht gutgetan.
„Die schöne Müllerin“ von Franz Schubert nach der gleichnamigen Liedsammlung seines Dichter-Zeitgenossen Wilhelm Müller ist das Psychogramm einer Liebeskrankheit bis zum Tod. In wunderbar eindrücklichen Bildern schildert der Text – vom „Wandern“ und „Wohin“ des Anfangs bis zum todtraurigen und doch tröstlichen „Des Baches Wiegenlied“ am Schluss die unglückliche Liebe des Müllerburschen zu seiner Herrin, an der seine Existenz zerbricht. Jedes der zwanzig Lieder ist - so gestaltet wie von den beiden Ausnahme-Interpreten Julien Prégardien und Kristian Bezuidenhout - ein Juwel für sich. Dass die Bachakademie die Hugo-Wolf-Akademie mit diesem Zyklus unter dem Musikfest-Motto „Ins Paradies“ mit ins Boot holte, war ein Glücksfall und bescherte dem Festival einen ersten Höhepunkt.
Mit rhythmischer Mechanik traktiert Bezuidenhout den Hammerflügel zum „Wandern“: das Bild der Räder des Mühlrads, „die gar nicht gerne stille stehn“, wird dadurch geradezu haptisch anschaulich. Welch ein Kontrast dazu der weiche Fluss des „Wohin“, mit dem Gruß an das Bächlein als Chiffre eines Lebenslaufs: „Du hast mit deinem Rauschen / Mir ganz berauscht den Sinn.“ Prégardiens unglaublich nuanciertes Timbre bringt alle Gedanken, Gefühle und Leidenschaften dieses lyrischen Ichs bravourös zum Ausdruck, die Klangfarben wechseln von Lied zu Lied, in der dramatischen Szene „Am Feierabend“ glaubt man die Enttäuschung des Müllerburschen förmlich zu spüren, wenn der Sänger, fast lautlos, konstatiert: „Und das liebe Mädchen sagt / Allen eine gute Nacht.“ Hyper-erregt fliegen die vier Verse des berühmten „ich schnitt es gern in alle Rinden ein“ vorüber, in rasender Hast wird „Der Jäger“ abgespult, ohne Unterbrechung werden „Eifersucht und Stolz“, „Die liebe Farbe“ und „Die böse Farbe“ attacca dargeboten. Auch hier artikuliert Prégardiens leidenschaftlich beweglicher Tenor scharf wie ein Diamant und dann wieder weich, lyrisch, verträumt, bis zur Daseinsverlorenheit der „Trocknen Blumen“ und der Vision aus dem Grab: „Und Lenz wird kommen, Und Winter wird gehen, / Und Blümlein werden / Im Grase stehn / Und Blümlein liegen / In meinem Grab…“ Der Applaus war enthusiastisch am Ende einer Sternstunde des Liedgesangs.
Contemporary im Schlosshof
Das amerikanische Kronos Quartet Open Air im Schlosshof
Wenn das legendäre Kronos Quartet im Schlosshof am Samstagabend kurz vor dreiviertel Zehn einen Satz aus Terry Rileys jüngstem Streichquartett spielt, zeichnen sich die barocken Grazien auf der Galerie des Alten Fürstenbaus nur noch schemenhaft vor dem blassen Nachthimmel ab. Ein Open-Air-Konzert in diesem Ambiente auf dem Klangpodium der Schlossfestspiele ist schon etwas ganz Besonderes. Und das Wetterglück spielt mit, etwas kühl zwar, aber die barocke Kulisse bildet den unvergleichlichen Rahmen zum Auftritt des amerikanischen Ensembles, das die Entwicklung der zeitgenössischen Musik in Amerika wesentlich mitgeprägt hat. 1973 in Seattle gegründet, feiert es nächstes Jahr seinen 50. Geburtstag: Der wuschelweißhaarige Primarius David Harrington ist immer noch dabei, doch auch seine Mitspieler John Sherba (Violine), Hank Dutt (Viola) und Sunny Yang (Violoncello) sind Teil einer verschworenen Gemeinschaft, die mit ihrem Projekt „50 for the Future: The Kronos Learning Repertoire“ wieder eine originelle Repertoireerweiterung betreibt. Das halbe Hundert neuer Stücke kommt auch jungen Musikern zugute, die es zusammen mit Kronos einstudieren. So wie vergangene Woche dem Kahlo Quartett und dem Lucete Quartett mit Studierenden der Stuttgarter Musikhochschule.
Alexandra du Bois‘ „Behind Rainbows“ und Garth Knox‘ „Satellites“ sind die Titel der beiden Stücke, die von den Jung-Profis tadellos bewältigt werden. Ihre Stücke lassen schon anklingen, was das Repertoire des Kronos Quartet so unverwechselbar und attraktiv macht. Im Unterschied zur Streichquartett-Avantgarde hierzulande, wo bei neuen Stücken vielfach Geräusch- und Klangmutationen im Vordergrund stehen, sind bei Kronos Melodie und Rhythmus elementar. Ob Experimentell, Jazz, Rock, Folk – immer spielt Melodiöses eine wichtige Rolle. Wie auch in Soo Yeon Lyuhs asiatisch angehauchtem „Yessori“ mit tremolierenden Melismen, in die sich plötzlich ein fernes Martinshorn von der Stuttgarter Straße mischt, bevor die Cellistin die Trommel rührt. Peni Candra Rinis indonesisches „Maduswara“, gesampelt mit Ostinato-Stimmengemurmel, spannt den Bogen mit lyrischen Kantilenen bis zum Gamelan-Gewitter, und bei Missy Mazzolis „Enthusiasm Strategies“ glaubt man zunächst zu hören, wie die Begeisterung aufhört, bevor sich ein stetiger Quartettklang aufbaut.
Gerade im Freien im Ambiente des Schlosshofs wirkt der stählerne Klang des Kronos Quartet, elektronisch verstärkt, wie elektrisierend. Zu Terry Rileys „The Assortment of Atoms – One Time Only”, das sich allmählich in ein Minimal-Music-Medley einschwingt, erstrahlt der Alte Fürstenbau in Bonbon-Rosa, bei John Oswalds „Spectre“ wechseln geisterhaft Licht und Dunkel, und zum „Quartet Satz“ des unverwüstlichen Philip Glass versammeln sich alle drei Streichquartette auf dem gut besuchten Klangpodium. Wer dabei war, konnte an diesem Abend unter wolkenlosem Himmel auf dem Klangpodium ein Dutzend bravourös gespielter Modern-Music-Stücke genießen. „Die sollten zum Jubiläum wiederkommen!“, meinte ein Besucher beim Weggehen.
22. Mai 2022
Requiem auf unsere bedrohte Natur
Patricia Kopatchinskaja und das Mahler Chamber Orchestra mit „Les Adieux“ bei den Festspielen
Premiere von „Les Adieux“ mit Patricia Kopatchinskaja und dem Mahler Chamber Orchestra: das gleiche szenische Konzert wird in den nächsten Tagen in der Berliner Philharmonie und der Hamburger Elbpilharmonie wiederholt. Klar, nach zwei Jahren Corona, als viele Veranstaltungen abgesagt werden mussten – auch in Jochen Sandigs ersten beiden Ludwigsburger Festspielzeiten konnte nur wenig live stattfinden – muss das Klassikpublikum erst langsam wieder zurückgewonnen werden, darüber rätseln auch die Stuttgarter Veranstalter. Mag auch sein, dass das Timing in der ersten Festspielwoche mit drei großen sinfonischen Konzerten innerhalb sieben Tagen nicht optimal war. Doch dass die Geigerin Patricia Kopatchinskaja, die zu den Topstars ihrer Zunft zählt und anderorts ein Publikumsliebling ist wie Currentzis, Kaufmann oder Lang Lang. In Ludwigsburg vor halb leerem Saal auftreten musste, gibt zu denken.
Im Forum kommt sie in schwarzem Umhang auf die schwarze Bühne, die von einer rußgeschwärzten Tuchwolke überwölbt und wie mit Asche bedeckt ist. „Les Adieux“ handelt vom Abschied von einer heilen Welt und Natur, wie sie zum Beispiel Beethovens „Pastorale“ so wunderbar bildhaft beschreibt. Die Sinfonie von 1808 steht am Anfang von 90 Minuten ununterbrochener, eindringlicher Auseinandersetzung mit dieser Thematik. „Erwachen heiterer Empfindungen bei der Ankunft auf dem Lande“ überschreibt Beethoven den Beginn: Doch der Furor, mit dem die 40 Instrumentalisten des Mahler Chamber Orchestra diesen Kopfsatz entfachen, verheißt eine ganz eigene Interpretation, die von Kopatchinskaja als Konzertmeisterin mit wildem Bogenstrich vorangetrieben wird. Zu den letzten Takten des Satzes treten knisternd die beiden Video-Screens in Aktion, zur „Szene am Bach“ erscheint auf dem Wolkentuch Gewässer und farbigste Natur, die sich allmählich verdüstert. Schlieren laufen wie Tränen an einer imaginären Linse herab, auf den Video-Bildschirmen wird „Natürliches Wasser“ angepriesen, die Musik steckt in Endlosschleife fest.
Klanglich und dynamisch bietet das MCO eine aufregende, in den von Kopatchinskaja vorgegebenen Tempowechseln sehr freie Interpretation. Während „Breaking News“ mit Müllbergen, Waldbränden und Ölfässern über die Bildschirme flimmern, bricht der Beethovensche Gewittersturm los. Man denkt an die neuesten Berechnungen zur Klimakatstrophe, dass die 1,5-Grad-Erwärmungsgrenze schon 2026 erreicht sein könnte: wie klingt der Hirtengesang, wie klingen die „Frohen, dankbaren Gefühle nach dem Sturm“ am Ende der Sinfonie da in den Ohren? Mittendrin bricht das ab, nun zieht zum Trauermarsch aus Beethovens „Eroica“ eine endlose Prozession von schwarzweiß skizzierten Tieren über den Wolkenhimmel – aber keine Arche Noah in Sicht. Kopatchinskaja am Klavier (das Thema aus Robert Schumanns „Geistervariationen“) leitet über zum langsamen Satz seines Violinkonzerts, eindringlich fahl intoniert, und dann spielt die fantastische Geigerin die Passacaglia aus Schostakowitschs a-Moll-Violinkonzert. In der Wolke verwelken die Blumen, dahinter windet sich ein trichterartiges Objekt am Bühnenhimmel, die lange klagende Violinkadenz wird mit elektronischen Klängen von Luigi Nono collagiert, dann senkt sich die Wolke wie ein Leichentuch auf die Musiker, und ein Bläser schreitet mit einem mit Stentorstimme dröhnenden Schofar-Horn vorüber.
13. Mai 2022
Ein Konzert im Zeichen des Krieges
Currentzis und das SWR Symphonieorchester mit er 5. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch
Als einen „Appell für Frieden und Versöhnung“ hat das SWR Symphonieorchester sein jüngstes Konzert deklariert, mit dem es auch auf Tournee in Madrid und Barcelona, Wien und in der Hamburger Elbphilharmonie unterwegs war. Sein Chefdirigent Teodor Currentzis hatte das ursprünglich vorgesehene Programm mit einer Uraufführung des serbischen Komponisten Marko Nikodijevic und einer Brahms-Sinfonie ersetzt durch ein ukrainisch-deutsch-russisches Programm. Am Beginn stand des in Kiew lebenden Oleksandr Shchetynskys „Glossolalie for Orchestra“: der Begriff ist urchristlichen Ursprungs und bezieht sich auf das Pfingstwunder der ekstatischen Reden in verschiedenen Sprachen.
Vor dem ätherischen Wehen von Klängen verharrt Teodor Currentzis in stummen Gedenksekunden vor seinen Musikern. Seit Wochen wird dem griechisch-russischen Dirigenten – das von ihm gegründete, in St. Petersburg residierende Orchester MusicAeterna wird von einer russischen Staatsbank mit finanziert - vorgeworfen, keine Erklärung zum Ukraine-Krieg abzugeben. Doch bisher hält der SWR und sein Symphonieorchester zu ihm in seiner Position, nur die Musik sprechen zu lassen. Das geschieht in Shchetynskys fein gesponnenem, sehr farbigen und klangintensiven Stück überzeugend und engagiert: die Bläser des Orchesters haben wunderbare Momente, im Verlauf einer Viertelstunde ballen sich die instrumentalen Aktionen zu einem gewaltigen Cluster, der sich am Ende wie eine drohende Wolke auflöst. Oleksandr Shchetynsky sagt im Programmheft zum Motto des Konzerts: „Mit dem Bösen kann man nicht zu einer friedlichen Veranstaltung kommen. Das Böse muss durch die Kraft des Geistes, durch einen hellen Verstand, durch Menschlichkeit, ein reines Gewissen und den Glauben an den Sieg des Guten überwunden werden.“ Und verweist gegenüber der „neuen Barbarei des Kreml“ auf Schostakowitsch in der Stalin-Ära.
Vor dessen 5. Sinfonie widmen sich Currentzis und der französische Solist Antoine Tamestit dem für ihn komponierten „Viola Concerto“ Jörg Widmanns. Eigentlich ist das ein humorvolles Werk, in dem die Rolle des Solisten im Bezug zum Orchester hinterfragt und parodiert wird. Currentzis will anfangen, hebt den Arm – aber wo ist der Violaist? Nichts geschieht, bis man irgendwo aus den hinteren Reihen der Streicher ein Zupfen und Klopfen hört: Tamestit spaziert durchs Orchester, bekommt Echo vom Schlagzeuger, schäkert musikalisch mit den beiden Harfenistinnen, der ganze erste Satz des Viola-Konzerts ist ein einziges Pizzicato. Darauf folgt eine Elegie, langsam beginnt ein Kampf gegen die martialische Gewalt des Orchesterapparats, dem Tamestit nichts als seine Dialogbereitschaft entgegenzusetzen hat. Der Klarinettist bläst ein jiddisches Volkslied, der Tumult nimmt zu, bis zum schrillen Schrei des Bratschisten, der ein letztes Chaos im Orchester auslöst. Dann schwingt sich die Viola bis in höchste lyrische Höhen, und Antoine Tamestit findet endlich seinen angestammten Solistenplatz neben dem Dirigenten. Als „demokratisches Märchenland“ hat Widmann dieses Werk bezeichnet, beim Zusehen und Zuhören könnte man in der gegenwärtigen politischen Situation auf noch ganz andere Gedanken kommen. Tamestits Zugabe ist herzerschütternd: ein ukrainisches Wiegenlied, in höchsten Flageoletts gesungen, verbunden mit einer Sarabande Johann Sebastian Bachs.
Wer Teodor Currentzis bisher als Punk-Dirigent mit Springerstiefeln, Röhrenhosen und hochrasierter Haartolle kannte, schaut überrascht auf den freundlichen Maestro in Anzug, weißem Hemd und schwarzer Krawatte, der nun mit einer faszinierenden Interpretation von Dmitri Schostakowitschs 5. Sinfonie den absoluten Höhepunkt des Konzerts schafft. Dieses Werk handelt von totalitärer Unterdrückung und Widerstand in Menschenwürde und ist daher von äußerster Aktualität. 1937 auf der Krim, mitten im stalinistischen Terror, begonnen und in Leningrad beendet, wo gerade seine Schwester nach Sibirien deportiert und ihr Mann verhaftet worden waren, bringt Schostakowitsch Bewusstseinshelle und Seelenqual mit ungeheurer Expressivität musikalisch zum Ausdruck. Wie Currentzis die lastende Bedrohung und Erinnerung an verlorene Freiheit im Kopfsatz mit Zartheit und Wucht modelliert, wie er die fratzenhafte Fröhlichkeit des Scherzo, die unendliche Trauer im Largo-Satz mit höchster Präzision ausmusiziert, das bringt das SWR Symphonieorchester phänomenal zur Ausführung. Und der scheinbar triumphale Schluss – dem Terror geschuldet - ist zum Exzess gesteigert. „Der Jubel ist unter Drohungen erzwungen“, schreibt Schostakowitsch in seinen von Solomon Wolkow herausgegebenen Memoiren. „So als schlüge man mit einem Knüppel und verlange dazu: Jubeln sollt ihr! Man muss schon ein kompletter Trottel sein, um das nicht zu hören.“
8. April 2022
Von erschütternder Aktualität
Igor Levit spielt Schostakowitschs 24 Präludien und Fugen op.87 im Beethovensaal
Im Juli 1950 reist Dmitrij Schostakowitsch mit einer sowjetischen Delegation zum Bachfest nach Leipzig, wo er auch als Mitglied der Jury beim Instrumentalwettbewerb die russische Pianistin Tatjana Nikolayeva kennenlernte. Inspiriert von Johann Sebastian Bachs „Wohltemperiertem Klavier“, komponierte er für sie sein Opus 87: 24 Präludien und Fugen, jedoch nicht in chromatischer Reihenfolge wie bei Bach, sondern im auf- und absteigenden Quintenzirkel. Es ist ein harmonisch und strukturell ungeheuer vielseitiger und beziehungsreicher zweieinhalbstündiger Klavier-Marathon, den Igor Levit im Meisterpianisten-Zyklus im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle vor einem restlos begeisterten Publikum grandios interpretierte. Danach gab es lang anhaltende Standing Ovations.
Von Tatjana Nikolayeva, die auch die Leningrader Uraufführung 1952 spielte, gibt es auf YouTube eine Aufzeichnung. Im Gegensatz zu dieser mit stoischer Ruhe vorgetragenen Wiedergabe ist Levits Interpretation von ungeheurer Spannung erfüllt. Die Groteske des G-Dur-Präludiums zum Beispiel, in seiner Dialogik an Mussorgskys „Goldenberg und Schmuyle“ aus den „Bildern einer Ausstellung“ erinnernd, ist anschaulich pointiert, das obstinate Staccato der folgenden Fuge aufwühlend. Der Beginn in C-Dur knüpft an die klangvolle Simplizität des ersten Präludiums im „Wohltemperierten Klavier“ an; im Fis-Dur- Präludium zum Auftakt nach der Pause vertieft Igor Levit jene pure Harmonie, in der folgenden Adagio-Fuge öffnen sich die die Töne wie die Knospen einer Rose. Der dramatische Gestus des Präludiums in es-Moll dröhnt wie sakrales Glockengeläut, der Kampf zwischen Dur und Moll in der Es-Dur-Fuge ist leidenschaftlich gesteigert. Filigranes und Quirliges, Schwebendes und Stürmisches, hämmernde Energie und barock verschnörkelte Anklänge wechseln in verschiedensten Beleuchtungen, und bei aller Expressivität seiner Wiedergabe fasziniert Levits luzide Transparenz aller Stimmen.
Mit weit ausschwingender Armgeste begibt sich Levit in die streng polyphon angelegte vorletzte Fuge in F-Dur, darauf folgt das letzte, erschütterndste Paar des Zyklus. Im Andante-Präludium spiegelt sich so viel Klage und Hoffnung, wie sie Schostakowitsch auch in seinen großen Sinfonien zum Ausdruck bringt. Und in der vom Tritonus-Intervall als Chiffre des Bösen durchsetzten Doppelfuge beschwört Igor Levit mit unerbittlicher Empörung jene schreckliche, alptraumhafte Zerstörung, wie sie der Komponist in seiner Leningrader Sinfonie vor 80 Jahren mitten im Zweiten Weltkrieg unüberhörbar dargestellt hatte. Heute wirkt diese finale Fuge von Opus 87 in Levits Interpretation wie ein aufrüttelnder Kommentar zu den Verwüstungen von Mariupol.
23. März 2022
Fanal in c-Moll
Grigory Sokolovs Klavierabend im Meisterpianisten- Zyklus im Beethovensaal
Was mag im Kopf dieses begnadeten russischen Pianisten vor sich gehen, der an diesem Freitag im Ukraine-Krieg in der (coronabedingt mit 60 Prozent) ausverkauften Liederhalle Beethoven, Brahms und Schumann interpretiert? Der Saal ist schon abgedunkelt, das Publikum verstummt, doch es dauert, bis sich die Tür öffnet und Grigory Sokolov zum Flügel strebt. Das Monothema der „Eroica“-Variationen von 1802 nimmt sofort gefangen, die dreifach angeschlagene Dominante hat noch nicht die pochende Dringlichkeit, mit der Sokolov im Verlauf der „Fünfzehn Variationen über ein eigenes Thema“ dieses wiederkehrende rhythmische Motiv immer stärker auflädt. Im Finale seiner Ballettmusik „Die Geschöpfe des Prometheus“ hatte Beethoven dieses Thema schon einmal zitiert, später wird es zum Kern des Finalsatzes seiner 3. Sinfonie. „Wer half mir wider der Titanen Übermut? Wer rettete vom Tode mich, von Sklaverei?“ lässt Goethe in seiner „Prometheus“-Hymne den heroischen Menschen gegen den Göttervater Zeus aufbegehren: was für ein beziehungsreicher Auftakt zu einem Klavierabend, an dessen Ende das Publikum auch nach der fünften Zugabe noch nicht genug hatte. Mit dem Largo op.28/20 aus den 24 Préludes von Frédéric Chopin setzte Sokolov einen letzten zornigen Akzent: der c-Moll-Schlussakkord wirkte wie ein Keulenschlag, wie ein Fanal. Dann folgte ein Bach-Choral: Tröstung durch Musik.
Grigory Sokolov ist seit Jahrzehnten für seine bis in letzte Nuancen durchdachten und ausgefeilten Interpretationen eines riesigen Repertoires von Transkriptionen geistlicher Polyphonie des Mittelalters bis zu Klassikern der Moderne im 20. Jahrhundert bekannt. Geboren 1950 in Leningrad -seit dem Ende der Sowjetunion wieder St. Petersburg - schon als 16jähriger mit der Goldmedaille des Internationalen Tschaikowskys-Wettbewerbs in Moskau ausgezeichnet, gilt er heute als der legitime Nachfolger von Koryphäen wie Emil Gilels und Swjatoslaw Richter. Wie er Beethovens „Eroica“-Variationen differenziert, wie er die Ländler-Variation ins Groteske pointiert, wie er die finale Fuge in apollinischer Klarheit zu ihrem optimistischen Ende führt, ist höchst eindrucksvoll. Eine ganz andere Klangsprache wählt Sokolov darauf für die drei Intermezzi op. 117 von Johannes Brahms. Hier lässt er die „Wiegenlieder meiner Schmerzen“, wie Brahms sie nannte, mit unglaublicher Anschlags-Sensibilität aus den Tasten entstehen, die Töne mit weichem Handgelenk wie Tränen tropfen um sie dann in orchestraler Klangfülle crescendieren zu lassen.
Den Kosmos seiner Interpretationskunst bringt Grigory Sokolov dann in der Wiedergabe von Robert Schumanns „Kreisleriana“ zum Klingen. Die acht „Fantasien für Klavier“ op. 16 nimmt er nicht als individualistisch empfundene Rhapsodien, wie sie erst vor einigen Wochen der armenische Pianist Sergei Babayan hier vorgeführt hatte. Sokolov bringt die innere Struktur dieser Fantasiestücke zum Leuchten: was beim ersten Stück („Äußerst bewegt“) bei vielen Pianisten als Chaos von Tönen erscheint, wird von Sokolovs rechter Melodiehand dominiert. Im zweiten Stück werden weiche Kantabilität und hämmernde Gewalt konfrontiert, das leidenschaftliche Rauschen der dritten ist hoch erregt. „Sehr langsam“, „sehr lebhaft“ wechseln die Gemütszustände in den folgenden Stücken: was Sokolov an lyrischer Intensität, dynamischem Power, rezitativisch versunkener Frage, feierlichem Pathos, berstender Energie, koboldhafter Theatralik und Elfenmusik hier ins Spiel bringt, ist phänomenal. Florestan und Eusebius, die beiden konträren Phantasiefiguren Schumanns, sind hier inspirierend präsent. Die Zuhörer im Beethovensaal, von denen während der Wiedergabe kein Huster zu vernehmen war, dankten mit Ovationen.
6. März 2022
Sphärenklang und Sternenmusik
Ingo Metzmacher und das SWR Symphonieorchester mit Messiaens „Éclairs sur l’Au-delá…“ im Beethovensaal
Am Anfang klingt ein Zeichen von Solidarität und utopischer Hoffnung für die vom Krieg heimgesuchte Ukraine: 116 Musikerinnen und Musiker des SWR Symphonieorchesters aus 21 Nationen, angeführt von der Konzertmeisterin Mila Georgeva, sie stammt aus Bulgarien, spielen Beethovens Ode an die Freude aus dem vierten Satz seiner Neunten Sinfonie, die auch als Europa-Hymne gilt. „Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt“ heißt es darin mit Schillers Text: an diesem Abend des Überfalls auf die Ukraine klingt das, dirigiert von Ingo Metzmacher, wie ein Pfeifen im finsteren Wald.
Auch das Stück, das an diesem und am gestrigen Abend im Beethovensaal der Liederhalle auf dem Programm stand, könnte passender nicht sein. Vor zwanzig Jahren hat Olivier Messiaen kurz vor seinem Tod als letztes großes sinfonisches Werk seine „Éclairs sur l’Au-delà…“ vollendet. Zum 150-jährigen Jubiläum des New York Philharmonic Orchestra komponiert, sind diese „Streiflichter über das Jenseits“ eine großartige Summe von Messiaens musikalischem und spirituellem Oeuvre. Seine tiefe Gläubigkeit als Christ drückt sich darin thematisch in einem ungeheuer intensiven, spektral aufgefächerten Klangpanorama aus. Ingo Metzmacher, einer der anerkannten Koryphäen in der Interpretation der sinfonischen und musiktheatralischen Großwerke des 20. Jahrhunderts von Schreker und Schostakowitsch bis zu Luigi Nono und Wolfgang Rihm, sorgte für eine äußerst expressive Wiedergabe.
Gegenüber der auch im Internet verfügbaren Aufnahme Sylvain Cambrelings mit dem früheren SWR Symphonieorchester Baden-Baden und Freiburg ist seine Interpretation analytischer, weniger betörend klangsinnig. Im ersten der elf Orchester-Meditationen (“Apparition du Christ glorieux – Erscheinung des verklärten Christus“) fasst er den dreifachen, durch Momente der Stille unterbrochenen Blechbläserchoral in feierliche Strenge, die beiden Sätze über kosmische Erscheinungen sind klanglich mit ihren vielen perkussiven Aktionen feinst differenziert, die Kapitel der Apokalypse von dramatischen Gegensätzen geprägt: die Erscheinung der „Sieben Engel mit den sieben Posaunen“ mit ihren Militärtrommel- und Gongschlägen, den Unisono-Posaunenstößen und Peitschenknallern hat drastische Anschaulichkeit.
Aus ganz anderen Welten erklingen die Sätze „Demeurer dans l’Amor – In der Liebe bleiben“ und „Le Christ, lumière du Paradis“, in welchen die 60 Streicher des Orchesters einen wunderbar sphärischen Transparenzklang erzeugen. So erhaben und erhebend Messiaens Spiritualität hier zu Wort kommt, so überwältigend sind seine den Vögeln als Himmelsboten gewidmeten Stücke über „L’oiseau-lyre – Der Prachtleierschwanz“ und „Plusieurs oiseaux des arbres de Vie – Mehrere Vögel der Bäume des Lebens“: die zehnfach besetzten Flöten und Klarinetten jubilieren hier in lebendiger Harmonie, das SWR Symphonieorchester agiert bravourös.
25. Februar 2022
Klang und Geräusch im Dialog bei ECLAT
Das Stuttgarter Neue-Musik-Festival brachte im Theaterhaus und Online 30 Urauführungen
„A very warm welcome to all our Online audiences all around the world” wünscht die Intendantin Christine Fischer zu Beginn des Eröffnungskonzerts von Eclat im Stuttgarter Theaterhaus. Das Festival für Neue Musik wird in diesem Jahr „hybrid“ veranstaltet, das heißt alle Konzerte finden sowohl vor Ort mit Publikum als auch live gestreamt im Internet statt. Für Online-Tickets gilt „Pay what you can!“, vor Ort variieren die Preise zwischen 6 und 20 Euro. Dass die Omrikon-Welle auch vor den Mitwirkenden des Festivals nicht haltmacht, zeigte sich schon am Eröffnungsabend: Florentin Ginot, der Kontrabass-Solist in Oscar Bianchis „Plenty for Two“, musste in Quarantäne, konnte aber seinen Part noch audiovisuell aufzeichnen. Er war so auf einem lebensgroßen Bildschirm sichtbar und über Lautsprecher hörbar präsent, das Zusammenspiel mit dem Posaunisten Bruce Collins und dem Ensemble Musikfabrik unter Clement Powers Leitung klappte wunderbar – ein logistischer Kraftakt wie vieles beim diesjährigen Eclat-Festival.
Bianchis Stück – wie alle drei Werke am Mittwochabend eine Uraufführung – ist eine halbstündige Klang- und Geräuschattacke mit Schlagwerk, E-Gitarre, Akkordeon, Klavier, vier Bläsern und Streichtrio. Es beginnt mit unheimlich zerfurchten, starren Klangflächen, aus der karstigen Klanglandschaft stechen individuelle Instrumentalaktionen hervor, angefeuert von brillanten Posaunen-Glissandi, die beiden Soloinstrumente sind jedoch meist integriert in das mosaikartig wechselnde, von kurzen Pausen strukturierte Geschehen. Gegenüber dieser kompakten Demonstration klanglicher Kombinationen waren Annesley Blacks „Tolerance Stacks II“ vielseitiger gegliedert und technisch aufgeladen. Die kanadische Komponistin konfrontiert ein 15-teiliges instrumentales Kollektiv mit vier technischen Klangquellen, die live manipuliert werden: No-Input-Mixer, Minimoog-Synthesizer, Turntables und Stimme kommen virtuos zum Einsatz, duellieren sich solistisch und im Dialog mit dem Ensemble. Von der Sängerin Juliet Frazer werden Texte des Erfinders Thomas Alva Edison und des Dichters Charles Cros zitiert, es geht Black um die Spannungen zwischen elektroakustischen und analogen Instrumenten, wobei der bravouröse Schlagzeuger Dirk Rothbrust beide Welten miteinander verbindet: einfallsreiche Performance, doch mit 70 Minuten viel zu lang.
Noch länger war mit eineinhalb Stunden am späten Abend Chaya Czernowins dreiteiliges Stück „Immaterial“ mit den Neuen Vocalsolisten. Doch hier konnte man durch die ungeheure Intensität von Czernowins Suggestion der menschlichen Stimme immer stärker in die meditative Tiefe dieses Werks eindringen. Im ersten Teil „Madrigalbuch und Intermezzi“ lotet es die vormusikalischen Artikulationsmöglichkeiten der Performer radikal aus, die Exerzitien vom Prusten und Lippenklappern, Röcheln und Grunzen bis Zungenschnalzen und Windgeräuschen werden von den sechs Neue-Musik-Koryphäen bewundernswert ausgeführt. Aber dies ist nur das Vorspiel zu einer Performance von Atemlosigkeit bis zum Ersticken, bei der man sich wie auf einer Corona-Intensivstation wähnt. Auf einer violetten Dämmerinsel, umgeben von tiefer Schwärze, steigert dann Truike van der Poel ihre Vokalisen zum Schrei, mischen sich madrigaleske Vokalgesten und virtuose Einzelaktionen zu einem Klangtheater, das doch immer wieder abbricht, verstummt, in Atemgeräuschen verlöscht und sich im Schlussteil in changierenden Harmonien vollendet. Ein Requiem?
Melodisches, dynamischer Flow und Lärm-Overkill waren Eindrücke der folgenden Abende beim Festival. Zum 66. Mal wurde der Kompositionspreis der Stadt Stuttgart verliehen, wie gewohnt wurden die prämiierten Stücke der Preisträger im Rahmen des Eclat-Festivals für Neue Musik vorgestellt. Benjamin Scheuer erhielt für seine „Acht Arten zu Atmen“ für Klarinette, Akkordeon und Samples den mit 8000 Euro dotierten 1. Preis, Mikolaj Laskowski („5 Things That Really Matter“) und Francesco Ciurio (“Abstractions to the Point of”) teilten sich mit je 4000 Euro den 2. Preis. Während im kurzen Stück von Laskowski das Ensemble Musikfabrik mit stummen Selfies mit emporgehobenen Instrumenten oder Victory-Zeichen (wie der Kontrabassist) sowie geräuschvollen Reaktionen auf die elektronischen Zuspielungen beschäftigt war, lieferten sich der Klarinettist Kilian Herold und Teodoro Anzellotti (Akkordeon) beim „Atmen“ virtuos witzige Dialoge, die solche Titel der einzelnen Sätze wie „Leichtfüßig“, „Stockendes Lied“ oder „Belcanto“ in wohlklingende instrumentale Aktion umsetzten. Auch das „Geschnatter“ konnte man sich sehr anschaulich ausmalen. Auch in den „Abstractions“ des Mailänders Francesco Ciurio für Oboe und Ensemble dominierte Klang vor Geräusch: sehr dicht im ersten Teil „Claustrophobico“, in schöner Balance zwischen dem Solisten Peter Veale und dem Kollektiv bei „Geometrico“, und intensiv im Dialog mit dem Schlagzeuger im „Equilibrio“.
Ungewöhnlich melodisch im Vergleich zu vielen anderen Uraufführungen bei Eclat ging es am folgenden (Freitag-)Abend weiter beim Konzert des SWR Symphonieorchesters mit Saed Hassads Stück „Different“ für Vierteltonmarimba und Orchester. Der jordanische Komponist strebt weg von einer Geräuschklang-Ästhetik, wie sie in vielen Kompositionen der Neuen Musik am Ende des 220. Jahrhunderts gang und gäbe war. „Es ist nicht immer gut, mit den Wölfen zu heulen“, zitiert er Debussy, und so klingt sein Werk in seiner Synthese von arabischen Melismen und impressionistischen Orchesterklängen denn auch recht ohrenfreundlich, könnte auch in einem Konzertprogramm vor nicht Neue-Musik-affinen Zuhörern gut ankommen. Ganz anders das aufgereizte Klangspektrum in „528Hz 8va“ für Orchester und Elektronik der Chinesin Ying Wang: hier ist das Orchester der dynamisch explosive Schrittmacher für die elektronisch erzeugten Morsezeichen, Funksignale, Brummtöne, Glockenstimmen.
Diese „Freudenmusik“ (Wang) ist wie eine furiose Fahrt auf der Klanggeisterbahn, ein paar Zitate vom wilden Sacre-Strawinsky und Techno-Beats inklusive, wozu einer der
Kontrabassisten den Rhythmus tanzt. In seinen orgiastischen Blechbläser-Fanfaren und polymetrischen Metamorphosen kann es schier kein Ende finden, doch ein barbarischer Marsch führt zum Ende, in das nur noch die Signale aus den Lautsprechern tuten. Gegenüber diesem energetischen, auch witzigen Flow ist Volker Heyns „Ferro Canto“ für Orchester und Zuspiel – schon 1989 komponiert, mehrfach bei den Donaueschinger Musiktagen abgesetzt und erst jetzt uraufgeführt – eine starre Lärmorgie, inspiriert von einem Obdachlosen an einer Straßenecke im australischen Sidney, der pausenlos mit schweren Holzstäben auf eine Eisentrommel schlug. Der „Eisengesang“ des 80-köpfigen SWR Symphonieorchesters unter der Leitung von Gregor Mayrhofer, das die ersten Minuten stumm dem Elektronik-Gedröhn aus den Lautsprecherbatterien zuhört, steigert sich zum lärmigen Overkill mit apokalyptischen Amboßschlägen.
5. Februar 2022
Gurrendes Taubenpaar
Gaechinger Cantorey startet ihre Ludwigsburger Saison mit Joseph Haydns „Die Schöpfung“
Es ist einer der berühmtesten Sonnenaufgänge der Musikgeschichte: Gerade hat Uriel, einer der drei Erzengel, die als Erzähler durch Haydns Oratorium „Die Schöpfung“ führen, die Entstehung von Licht und Finsternis am dritten Schöpfungstag beschrieben, die Cembalistin umrankt den Schlussvers – „Er machte die Sterne gleichfalls“ – mit funkelnden Verzierungen, nun folgt ein Orchestervorspiel, welches vom ersten Glanz der Traversflöten sich in einem stetigen Crescendo bis zum trompetenüberstrahlten Tutti weitet: „In vollem Glanze steiget jetzt die Sonne strahlend auf…“ Der Text von Gottfried van Swieten setzt den von John Milton inspirierten Age-of-Enlightenment-Optimismus des klassischen Zeitalters in wortmächtige Naturbilder um, doch die Musik macht sie auf überwältigende Weise anschaulich – zumal, wenn sie so eindrucksvoll dargeboten wird wie von der Gaechinger Cantorey unter Hans-Christoph Rademanns Leitung im ersten Abonnementkonzert der Bachakademie im Ludwigsburger Forum
Haydns „Schöpfung“ ist voll solcher musikalischer Naturbilder, und typischerweise sind sie dem Text voraus, sodass sich beim Hören der Rezitative und Arien eine Art Déjà-Vue-Effekt einstellt. Stürme, Blitze, Donner, „der allerquickende Regen“, „der leichte, flockige Schnee“: die Tonmalerei bringt die Naturphänomene schon vor das geistige Auge, ehe die sprachliche Schilderung sie bestätigt. Und so prägnant Rademann mit seinem vorzüglichen, mit Originalklanginstrumenten bestückten Orchester schon in der „Vorstellung des Chaos“ am Anfang die Dramatik des Hell-Dunkel herausarbeitet, so differenziert machen die von Haydn oft solistisch komponierten Bläser die Wunder der Natur anschaulich. Ganz realistisch ist das beobachtet, etwa bei der berühmten Gabriel-Arie, wenn die Sopranistin Katharina Konradi „Und Liebe girrt das zarte Taubenpaar“ in mehrfacher Wiederholung lebendig macht: das untermalen die zwei Fagotte, und wer schon mal am frühen Morgen vor dem Fenster von Taubengurren geweckt worden ist, der erkennt im gutturalen Ton des Instruments die Tonlage dieses Taubenpärchens wieder. Bei „der Nachtigallen süße Kehle“ ist es dagegen die Traversflöte, welche von Georges Barthel mit sublimer Einfühlung intoniert wird.
Apropos Cembalo: Bei seinen Rezitativen wechselt Haydn zwischen Continuo- und Streicherbegleitung, und beim ersten Saisonkonzert im Forum spielte erstmals ein neues Cembalo mit: es ist ein Nachbau eines Instruments von Gottfried Silbermann aus der Mitte des 18. Jahrhunderts und kommt aus der Werkstatt des Cembalobauers Max Doronin im russischen Sotschi; es ist also quasi der kleinere Bruder der Silbermann-Truhenorgel, die seit fünf Jahren das „Herzstück“ der Gaechinger Cantorey bildet. Wie wunderbar Joseph Crouch (Cello) und Michaela Hasselt (Cembalo) bei der Continuo-Begleitung harmonierten, zeigte sich zum Beispiel im dritten Teil des Oratoriums beim Dialog von Adam und Eva – sicherlich nicht ganz genderkonform im heutigen Sinn, wenn Adam spricht: „Nun folge mir, Gefährtin meines Lebens! / Ich leite dich“ und Eva antwortet: „Mein Schirm, mein Schild, mein All! / Dein Will ist mir Gesetz. / So hat‘s der Herr bestimmt, / und dir gehorchen bringt / mir Freude, Glück und Ruhm.“
Dieses Adam-und-Eva-Finale von Haydns „Schöpfung“ ist pure Paradies-Idylle, die einleitende Sinfonia mit drei Traversflöten, Hörnern und Streichern „strömt reine Harmonie“, das macht Rademanns Dirigat begeisternd anschaulich. Ganz wesentlichen Anteil an der mit starkem Applaus im praktisch ausverkauften Forum aufgenommenen Aufführung hatte natürlich der mit viermal neun Stimmen vokalsymmetrisch besetzte Chor der Gaechinger Cantorey: grandios die von Rademann im Tempo angezogene Fuge „Alles lobe seinen Namen“ am Ende des 2. Teils, prächtig der Schlusschor des 1. Teils: „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes“, und immer von synchroner Beweglichkeit, Klangfülle, Transparenz und Durchschlagskraft. Sehr gut artikulierte die für Dorothee Mields eingesprungene Sopranistin Katharina Konradi, kehlig der Tenor Julian Habermann, und ausdrucksstark, bis auf leichte Intonationstrübungen zu Beginn bei seinem „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“, der Bass Tobias Berndt.
23. Oktober 2021
Neugier und Aufbruch zu Neuem
Die Donaueschinger Musiktage starten mit Czaya Cernowins „Unhistoric Acts“
„Widerborstig“ erschien einem Kritiker Paul Hindemiths drittes Streichquartett bei seiner Uraufführung 1921 in Donaueschingen. Nun stand dessen erster Satz – „lebhaft und sehr energisch“ – nach 100 Jahren am Anfang des Festakts, mit dem dieses weltweit älteste Festival für Neue Musik gefeiert wurde. Natürlich wirkte das Stück im Strawinsky-Saal wie ein Klassiker der Moderne, doch nostalgischer Rückblick ist nicht die Sache bei den Donaueschinger Musiktagen, die auch im Jubiläumsjahr kein „Best Of“ mit Koryphäen der Vergangenheit wie Bartók, Ligeti, Nono, Stockhausen bieten, die es wenigstens zum Teil bis in die Mainstream-Konzertprogramme geschafft haben. Nur Pierre Boulez ist von den Säulenheiligen beim Konzert des Lucerne Festival Contemporary Orchestra heute Abend mit seiner 1951 uraufgeführten „Polyphonie X“ zugegen, als Markstein des Neubeginns nach dreißig wechselhaften Jahren, in denen das Festival zeitweise nach Baden-Baden ausgelagert und von den Nazis als völkisches Chorfest vereinnahmt worden war. Mit dem Einstieg des Südwestrundfunks als Partner war dann nach dem Zweiten Weltkrieg auch die Zukunft gesichert.
Seitdem sind Neugier und Aufbruch zu Neuem in der Avantgarde – so wie in diesem Jahr das von Festivalleiter Björn Gottstein initiierte „Donaueschingen Global“ mit zeitgenössischer Musik aus Südamerika, Afrika und Asien – programmatisch für diese Tage der Neuen Musik. Kostprobe davon am Ende des Festakts (wie alle 24 Konzerte mit 27 Uraufführungen vom SWR übertragen und im Livestream gesendet), war Mikotaj Laskowskis „Transnatural#2“ aus seinen „Ocean Series“ für Streichquartett und Elektronik, vom Quatuor Diotima im Dialog mit dem Computer in eine dystopische Zukunft nach einer Umweltkatastrophe projiziert: weißes Rauschen und Roboter-Singsang, Krächzergeräusche der Streicher wie menschliche Schreie und Synthesizer-Klangwellen: „Der Kontakt mit der Natur ist nur noch mit technologischen Mitteln möglich. Wer wären Sie am liebsten – ein Delfin oder ein Walross? Was auch immer Sie wählen, wir wünschen Ihnen eine angenehme Klangreise“.
Agonie des Erstickens
Was in Donaueschingen seit Jahren stark ins Gewicht fällt, sind die außermusikalischen Bezüge vieler Werke, die hier uraufgeführt werden. Das ist auch Chaya Cernowins einstündigem „Unhistoric Acts“ für Streichquartett und 24-stimmiges Vokalensemble einkomponiert, das beim Auftaktkonzert eine stark beeindruckende Uraufführung erlebte. Es ist Teil einer Trilogie, sein Titel bezieht sich auf ein Romanzitat der englischen Schriftstellerin George Eliot aus dem 18. Jahrhundert über die Bedeutung „unhistorischer Taten“ für das Gute in der Welt. Chaya Cernowin verwendet dazu Predigerworte („Alles hat seine Zeit“), das Statement einer Zeugin des Polizistenmordes an George Floyd („Black Lives Matter“) und persönliche Aussagen der Sänger zur Corona-Pandemie als Material ihrer Vokalkomposition, deren Worte fast völlig in Klang verwandelt werden. Ein Klageruf, aus tiefsten Registern bis in Diskanthöhen als Glissando anwachsend, zieht sich als Leitmotiv durchs Stück. Es fängt ganz leise an, Atemgeräusche und wie erwürgte Schreie mischen sich in die Flageolett-Jammerlaute und wispernden Pizzicati des Jack Quartets; das fabelhafte SWR Vokalensemble unter der Leitung seines neuen Dirigenten Yval Weinberg, allen voran die Sopranistin Johanna Zimmer, gestaltet dies eindringlich und virtuos. Etwa in der Hälfte des Stücks wird es lauter, dramatischer, die Männerstimmen stoßen hebräische Wörter hervor, das Streichquartett scheint die Agonie eines Sterbenden abzubilden. Vielstimmige Klangbänder, sich steigernde und beschleunigte Glissandi leiten zum Schlussteil über, „Wut und Trauer“ prägen nach Aussage Czernowins ihre Komposition. Doch vieles ist – und gerade dadurch von starker Spannung und Expressivität – der Stille abgerungen, die sich immer wieder wie ein Atemanhalten der musikalischen Aktion äußert.
Im „Eröffnungskonzert“ am Donnerstagabend in der Baar-Sporthalle war das SWR Symphonieorchester unter der Leitung von Brad Lubman der Hauptakteur, zunächst in Annesley Blacks „Abgefackelte Wackelkontakte“ für Lupofon, No-Input-Mixing-Board und Orchester. Die Kanadierin konfrontiert das Oboeninstrument und den NIMB-Klangumwandler in einem spektakulären Pandämonium instrumentaler Aktionen, die zerstückelt, verändert und wieder neu zusammengefügt werden. Wie eine Maschine setzt sich der Orchesterapparat knirschend, greinend in Bewegung, das Lupofon trötet seine Töne dazu, die Dialoge zwischen NIMB-Synthesizer und Orchester erzeugen mancherlei komische Blubber- und Jodlereffekte, von den beiden Solisten Peter Veale und Mark Lorenz Kysela gibt’s freejazzmäßig improvisierte Kadenzen dazu. Obwohl mit 23 Minuten das längste Stück, war es doch das kurzweiligste, ganz im Gegensatz zum bestenfalls klangaparten Posaunenkonzert Maja S.K. Ratkjes. Beat Furrers Orchesterskizzen „Tableaux I-III“, inspiriert von Gemälden des Surrealisten Max Ernst, waren dagegen altmeisterlich lapidar. Multilateralismus statt Eurozentrik in der zeitgenössischen Musik war dann schon am zweiten Tag des Festivals im Vormittagskonzert zu erleben. Rodolfo Acostas „Les flores subterrános“ wirkten wie archäologische Grabung im Puls der Zeit, Carolina Noguera Palau überwölbte in „Ferocious“ tänzerische Rhythmen ihrer lateinamerikanischen Heimat mit lichten schwebenden Klangwolken, und der Iraner Nima. A Roshwan steigerte einen ätherischen Melisma-Akkord zum brüllenden Aufschrei: auch ein politisches Zeichen?
Ein Oratorium zum Abschluss
Zum „Klangkunst-Event“ bei den Donaueschinger Musiktagen am Samstag Nachmittag erlebt man die ganze Stadt auf den Beinen: Alles flaniert auf der Hauptachse zwischen Donauquelle und Rathaus, Hunderte von Musikerinnen und Musikern sind auf Balkonen, in Fenstern von Wohnungen, überall am Rand der Straße postiert, um Daniel Otts und Enrico Stolzenburgs „Donau / Rauschen – Transit & Echo“ als einstündige Performance und Installation lebendig zu machen. Über Lautsprecher werden das Rauschen des Flusses und Soundscapes der Donau-Metropolen Europas eingespielt, minutengenau koordiniert sind die musikalischen Aktionen, zum Ende sammeln sich die fünf Blaskapellen aus Donaueschingen und der Region sternförmig auf dem Rathausplatz zum lautstarken Finale. Ein Neue-Musik-Volksfest mit Profis und Laienmusikern, Einheimischen und Festivalgästen: ein kleines Stück Utopie gemeinsamen Kunstgenusses.
Facettenreich waren die Donaueschinger Musiktage auch im Jubiläumsjahr: Klangkunst, Jazz, Performances, Lectures. Doch das Spannende, Herausfordernde, manchmal auch Langweilige ereignete sich in den dreizehn Konzerten, bei denen „Donaueschingen Global“ in diesem Jahr ein besonderer Schwerpunkt war. Was beim Taschkenter Omnibus-Ensemble mit ritualen Beschwörungsgesten und feiner Klanglichkeit türkischer, thailändischer und chinesischer Provenienz zeremoniell unterstrichen wurde, war beim gemeinsamen Auftritt zweier bolivianischer und kolumbianischer Ensembles mit indigenen Flöten und Streichinstrumenten ein kulturelles Aha-Erlebnis. Besonders die Sängerin Beatriz Elena Martinez erwies sich in Juan Arroyos „Wayra“-Dramolett als begnadete Performerin. Und das vorzügliche Klangforum Wien widmete eines seiner beiden Konzerte ganz dem interkontinentalen Schwerpunkt. Was die peruanische Komponistin Macri Cáceres über die Einflüsse westlicher Musik auf die von den einheimischen Traditionen inspirierte Neue Musik ihres Erdteils erklärte, gilt wohl für die meisten der in Donaueschingen vorgestellten außereuropäischen Werke: die handwerklichen Grundlagen - bis zum Einsatz von Computer und Elektronik - sind auf dem Niveau europäischer und nordamerikanischer Universitäten, doch Stil und Inhalt werden immer stärker von der eigenen Tradition geprägt.
Einige Interpreten und Komponisten waren diesmal gleich mehrfach im Einsatz. Der E-Gitarrist Yaron Deutsch ging im Solo-Konzert „under-current“ von Stefan Prins mit dem Orchestre Philharmonique de Luxembourg bis an die Dezibel-Schmerzgrenze und schlug mit seinem Arsenal an Verstärkern den Orchesterapparat um Längen; andererseits zeigte er sich im Kammerkonzert des Nickel-Quartetts bei Rebecca Saunders‘ „Us Dead Talk Love“ als hochsensibler Instrumentalist; von der britischen Komponistin gab es mit dem Trio Accanto (Saxophon, Schlagwerk, Klavier) ein tolles Stück „That Time“ auf ein Zitat von Samuel Beckett voller Dynamik und Energie. Wie unermesslich vielfältig die Sprachen der Neuen Musik sind, spiegelte das Abschlusskonzert mit den Klangkörpern des (mit-)veranstaltenden SWR: übervollgepackt mit literarischen (E.A.Poe, Dante), aktuellen (Pandemie) und musikhistorischen Referenzen von mittelalterlichen Responsorien bis zu Musical und 100 Jahren Donaueschingen war Francesco Filideis bombastisches Passions-Oratorium „The Red Death“ mit Solisten, Chören, SWR Symphonieorchester und Elektronik unter der Leitung von Sylvain Cambreling ein fünfviertelstündiges Hörbad in Überwältigungsmanier.
Liszt in Vollendung
Lise de la Salles grandioser Klavierabend im Ludwigsburger Forum
Vor zwei Tagen erst beim renommierten Klavierfestival Ruhr, als Einspringerin für Hélène Grimaud, die wegen Coronabestimmungen nicht aus den USA einreisen konnte, nun mit ihrem Solo-Recital auch im Ludwigsburger Forum, als letztes Konzert vor der Sommerpause im Theatersaal: Lise de la Salle bescherte den Zuhörern zwei Klavier-Sternstunden, die 33jährige Französin, die als Wunderkind schon mit neun Jahren ihren ersten Auftritt bei Radio France hatte und vier Jahre später ihr erstes Konzert beim Festival in Avignon spielte, zeigte sich auf dem Höhepunkt ihrer Kunst.
Franz Liszt – mit dem sie sich auch schon auf einigen CD-Albums auseinandergesetzt hat – stand im Zentrum ihres bejubelten Klavierabends, der von einer Wiedergabe seiner großen h-Moll-Sonate gekrönt wurde. Am Anfang des Recitals stand jedoch Isaac Albéniz: bei seinen „Chants d’Espagne“ kamen sofort die subtilen Anschlagsvarianten zur Geltung, mit denen Lise de la Salle die fünf Sätze zu einem spannenden Porträt spanischer Kunst-Folklore gestaltete. Motorisch rhythmisiert sie die Anfangstakte des „Prélude“, steigert die Crescendi bis zum klirrenden Diskant, manche Klänge wirken wie auf Porzellan gemalt. Im „Orientale“ verdichten sich die Farben, „Sous le Palmier“ sind die dynamischen Kontraste sanft herausgestellt, die andalusische Heiterkeit von „Córdoba“ und die tänzerische Leidenschaft der „Seguidillas“ sind lebendig phrasiert.
In eine völlig andere Welt taucht Lise de la Salle mit Franz Liszts „Mephisto-Walzer“ ein. Grandios charakterisiert sie die Facetten der Teufelsgestalt, rasant und virtuos stürzt sie aus dem leeren Quinten-Grummeln in den wilden Trubel des Hexensabbats, faszinierend koloriert sie das verführerische Klanggemälde im Mittelteil. Das perlt, faucht, tänzelt, stürmt dämonisch voran und wird von der Interpretin atemberaubend in die Tasten des Steinway gewirbelt. Dafür Bravos und Ovationen schon zur Pause. Auch der zweite Teil des Konzerts wird von einem bei Klavier-Recitals selten gespielten Werk eingeleitet: Alberto Ginasteras „Danzas Argentinas“ werden in ihren temperamentvollen Gegensätzen ausgeleuchtet, vollgriffig im ersten der folkloristisch inspirierten Tänze, traumhaft klanglich differenziert im zweiten und brodelnd, jazzrhythmisch im „Danza del Gaucho Matrero“. Hier zeigt Lise de la Salle ihre großartige Fähigkeit, jede emotionale Nuance aus dem Charakter der Komposition herauszuholen – spektakulär!
Und dann Liszts ungeheuer vielfältige Sonate h-Moll von 1852, in ihrer rhapsodischen Anlage und bekenntnishaften Radikalität weit in die Zukunft weisende Ausdrucksmusik. Wie Lise de la Salle die fünfzehn bizarr unterschiedlichen Teile in einem großen interpretatorischen Bogen zusammenhält, ist begeisternd und bewundernswert zugleich. Unheimlich die ersten Töne, nur trocken hingetupft die Tonleiter abwärts, daraus entwickeln sich im „Allegro energico“ und „Grandioso“ blitzartige Läufe und Oktavgewitter, hinreißend durchgekämpft bis zum Schluss, als das Anfangsthema in einer bizarren Fuge wieder auftaucht und sich all das pianistische Toben in einem Lied ohne Worte schlicht und ergreifend auflöst. Ein letztes Mal diese unheimliche Tonleiter abwärts, dann drei ätherische Akkorde, leise verklingend, der Schlusspunkt im Bass, Ende: Einfach bravourös! Wie auch die beiden Zugaben: Fréderic Chopins posthumes cis-Moll-Nocturne, und Fats Wallers Jazz-Titel „Viper’s Drag“.
Bewegliches Fest im Wandel der Spielorte
Von Buxtehude bis Sonnenuntergang: ein Festspielpanorama in vier Stationen
Hemingways „A Moveable Feast“ lässt das Leben des amerikanischen Expats in Paris während der 1920er Jahre Revue passieren; nun haben die Ludwigsburger Festspiele den Titel für „Hannigan’s Moveable Feast“ ausgeliehen: ein bewegtes Fest der musikalischen Art, welches an vier Stationen des barocken Schlosses gefeiert wurde. Die amerikanische Sopranistin Barbara Hannigan selbst trat mit einem Solo-Canto von Luigi Nono in Erscheinung, das zweistündige Programm als Ganzes glich einer Art Revue durch die Musikgeschichte und wurde von jungen Sängerinnen und Sängern gestaltet, die Hannigan mit ihrer Initiative „Equilibrium“ unterstützt. Den Anfang machte die Griechin Aphrodite Patoulidou auf der Open-Air-Bühne im Schlosshof mit John Doves Solo-Kantate „Ariel“.
Der Shakespearesche Luftgeist aus „The Tempest“ ist für den britischen Komponisten ein in Vokalisen schwebendes, ätherisches Wesen, das in der von Patoulidou und der Tänzerin Tian Gao realisierten Performance szenische Gestalt gewinnt. In einem weißen Badezuber wird die Sängerin, von der zunächst nur die wippenden Zehen zu sehen sind, über die Bühne geschoben, bald wird sie von der wie eine balinesische Tempeltänzerin agierenden Tian Gao befreit: aus Gesten, Intervallen, Kantilenen und Körperaktionen entfaltet sich ein beziehungsreiches, virtuoses tänzerisch-musikalisches Geflecht. Am Schluss, nach Klage und Triumph, versinkt die Ariel-Figur wieder in ihrer Badewanne und singt weiter.
Alle vier Stationen – so Barbara Hannigans Vorgabe – waren von den Künstler*innen selbst konzipiert, von der einen zur nächsten wird man von einer Schlossführerin gelotst. Im Schlosstheater warten schon der Tenor Ziad Nehme und die Tänzerin Clémentine Deluy (wie Tian Gao aus der Compagnie Sasha Waltz & Guests), um Claudio Monteverdis „Il combattimento di Tancredi e Clorinda“ in Bewegung zu setzen. Das gelingt nur begrenzt, was nicht nur an der Fassung für eine Gesangsstimme liegt, während im Original-Madrigal Erzähler und Protagonisten auf Tenor, Bariton und Sopran verteilt sind. Auch Marieke Spaans am Cembalo kann nicht die ganzen Generalbassfarben ersetzen, vor allem jedoch ist Nehme nicht immer intonationssicher, und die choreographische Umsetzung bleibt steif und stereotyp. Weiter geht es zum Barock-Avantgarde-Mix in der Schlosskirche, wo allerdings das Timing des in verschiedene Besuchergruppen aufgeteilten Wandelkonzerts nicht stimmt. Man muss fast eine Viertelstunde warten bis zum Einlass, die Schlossführerin überbrückt mit Informationen und Anekdoten aus ihrem Repertoire – gut gemeint, aber dramaturgisch ohne Bezug zum „Moveable Feast“.
Von der Empore schrillt Nonos Anklage gegen Unterdrückung, verkörpert in der Symbolfigur der algerischen Widerstandskämpferin Djamila Boupachà: ein stark expressiver, polytonaler Aufschrei aus den „Canti di vita e d’amore“ von 1962 mit dem Text von Jesús López Pacheco über „diese Nacht des Blutes / diesen unendlichen Schmutz. / Es muss ein anderer Tag kommen. / Es muss das Licht kommen.“ Dietrich Buxtehudes Kantate „Mein Herz ist bereit“ schlägt den thematischen Bogen zurück ins 18. Jahrhundert, von einem Sextett des Orchesters der Ludwigsburger Schlossfestspiele zügig musiziert, doch der amerikanische Bassbariton Douglas Williams pflegt einen volumenstarken, buchstäblich hemdsärmeligen Zugang. Zu John Luther Adams‘ Cello-Solostück „Above Sunset Pass“ rezitiert er Verse (“Remember the Earth”), zu Matthew Barnsons “A Gale in April” mit Anklängen an Benjamin Britten dirigiert er als Sänger das zugehörige Streichquartett. Musikalischer Höhe- und Schlusspunkt ist dann Coline Dutilleul mit ihren Instrumentalisten auf dem Podium des Ordenssaals. Wie Charlotte Balle, Lisa Barry (Violinen), Lydia Bach (Viola), Krassimira Krasteva (Cello) und Kunal Lahiry (Klavier) hier zu Ernest Chaussons “Chanson perpétuelle“ den dichten harmonischen Hintergrund für die belgische Mezzosopranistin liefern, und wie Coline Dutilleul bei Ottorino Respighis „Il tramonto“ das rezitativische Ergriffensein, die Gemütsbewegungen bis zur leidenschaftlichen Ekstase mit ihrer kultivierten, gestaltungssicheren Stimme in großen, kantablen Linien entfaltet, begeisterte.